Das Fenster der Glückseligkeit: echtes Kino

Wer Urlaub nimmt, um in dieser Zeit für seinen Arbeitgeber arbeiten zu dürfen, hat entweder einen Traumjob oder was falsch gemacht… Vielleicht ist es bei mir ein wenig von beidem? *
Filmfest-Fran war unterwegs beim 29. Filmfest Hamburg Anfang Oktober und hat die große Ehre, diesen wundervollen Blog kapern zu dürfen, um Euch eine kleine Auswahl von Filmtipps zu präsentieren. Das Filmfest fand noch in einem gefühlten Fenster der Glückseligkeit statt: Mit 3G, ernsthaften Kontrollen sowie Maskenpflicht und Abstand im Kino hatte ich als Geimpfte ein Gefühl der Sicherheit – wir wissen heute, dass das subjektiv war und umso mehr genieße ich, dass ich diese Tage noch so relativ unbeschwert im Kino und mit Filmbegeisterten verbringen durfte. Jetzt kommt die dunkle Jahreszeit, wahrscheinlich weitere Einschränkungen im alltäglichen Leben durch die Pandemiemaßnahmen und ich bin mir sicher, dass einige der Empfehlungen nun recht bald auch im Streaming oder physisch vorliegen werden (teilweise tun sie das schon), wenn man denn die Kinoauswertung nicht nutzen kann/möchte. Ich habe deswegen einmal meine Top5 für Euch hier vorbereitet. **

FFF Top 5

5) Serien
Gerade dem Host dieses Blogs sei konstant und immer noch die sechsteilige ARD-Dokumentation „Kevin Kühnert und die SPD“ von Katharina Schiele und Lucas Stratmann empfohlen – und natürlich allen anderen auch. Die Doku begleitete Kühnert über Jahre bei seinem Engagement und liefert faszinierende Einblicke nicht nur über diesen interessanten Politiknachwuchs, sondern auch über Parteiprozesse und Hintergründe. Und jetzt isser plötzlich General… Was ich besonders mochte ist, dass hier Politik einmal erklärt und gezeigt wird ohne viel Aufregung und Skandal, einfach nur als harte Arbeit und spannendes gesellschaftliches Engagement. Bonuspunkt für Sozis ist natürlich, dass ständig jemand durchs Bild läuft, den man kennt…
 
Das passiert in der Brandenburger Einöde sicherlich seltener, aber wer die erste Staffel genauso liebte wie ich (oder das „Bärchen“ Ronald Zehrfeld), dem sei noch entgegengerufen an dieser Stelle: „Warten auf’n Bus“ Staffel 2 von Fabian Möhrke ist jetzt online und hatte beim Filmfest Premiere.
 

4) „Der politische Film” der FES
Meine eigene Beziehung zum Filmfest ist natürlich sehr geprägt vom politischen Film und die Auswahl in unserem Wettbewerb dieses Jahr war sehr vielfältig und spannend, handwerklich und inhaltlich. Von den 9 Filmen seien hier drei besonders erwähnt. Zuerst sei da natürlich die diesjährige Gewinnerin besonders hervorgehoben, ein Spielfilm über eine Mutter, die sich auf der Suche nach ihrer entführten Tochter mit dem mexikanischen Kartell und den Sicherheitskräften anlegt (Schnittmengen vorhanden). „La Civil“ von Theodora Ana Mihai ist ein intensiver, optisch bombastischer Thriller, der es mit den ganz Großen aufnehmen kann. Für einen Erstlingsspielfilm eine beeindruckende Leistung, für eine junge Regisseurin, die in Rumänien geboren ist und nach Belgien auswanderte, ein Meisterwerk. Femizide und Korruption sind die Leinwand, auf der Mihai eine Geschichte von Mut, Liebe und Zivilcourage zeichnet, aber auch von Wut und Verzweiflung.
 
Besonders berührt hat mich „Das Ereignis (Happening)“ von Audrey Diwan, die sich frei nach Annie Ernaux mit der Situation von ungewollt Schwangeren im Frankreich der Sechziger auseinandersetzt. Brutal, direkt und handwerklich sehr nah dran an der Hauptfigur wirft „Das Ereignis“ schmerzhafte und bis heute sehr aktuelle Fragen auf über die reproduktive Selbstbestimmung von Frauen.
Der Zuschauerpreis des Gesamtfilmfests ging dieses Jahr erstmals auch an einen Film aus unserer Reihe und das ist nicht verwunderlich, denn mit „Little Palestine, Diary of a Siege“ zeichnet Abdallah Al-Khatib ein poetisches und grausames Bild der Belagerung des palästinensischen Stadtteils Yarmouk im syrischen Damaskus. Dieser wurde von Assad 2013-2015 regelrecht ausgehungert. Al-Khatib – der mittlerweile in Schöneberg bei mir umme Ecke wohnt – hat hunderte Stunden des Überlebenskampfes auf Film dokumentiert und daraus ist ein bedrückendes Stück Mahnung geworden, was die internationale Staatengemeinschaft alles zulässt.

Und noch zwei Mediathek-Tipps aus unserem Wettbewerb:
„Rückkehr nach Reims (Fragmente)“ von Jean-Gabriel Périot: Arbeit und Klasse und Eribon.

„Wir sind alle deutsche Juden“ von Niko Apel: Daniel Cohn-Bendit über sein Jüdischsein

3) Liebe beim #FFHH21
Große Gefühle sind der Stoff, aus dem Filme gemacht sind und drei Spielarten der Liebe haben besonders geklickt dieses Jahr.

Da wäre zum einen die langjährige Ehe in „After Love“ von Alex Khan, in der die Witwe nach dem Tod des Mannes dessen Zweitfamilie kennenlernt und damit viel über ihren Mann erfährt. „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ widmet sich dann den Jungen, den Modernen, den Großstädtern im 13. Bezirk von Paris. Großmeister Jacques Audiard wirkt jung und frisch in schwarz-weiß und ist sehr französisch. Besonders beeindruckend ist aber das Leid des homosexuellen Hans, erzählt in drei Zeitschienen und zu 95% im Gefängnis. „Große Freiheit“ von Sebastian Meise mit einem faszinierenden Franz Rogowski in der Hauptrolle zeigt einmal mehr die Grausamkeit von Diskriminierung und Abwertung, staatlich sanktioniert und menschenverachtend und bis tief in die 90er Jahre hinein. („Große Freiheit“ läuft seit November im Kino.)

2) Wie immer: tolle Iraner
Vielleicht sind es die schweren Bedingungen, die Unterdrückung, das dauerhafte Verstecken, die dem iranischen Kino so viel Kreativität einpflanzen. Filme können entweder in der Einöde, als Kammerspiele oder im Auto gedreht werden, um der Überwachung und Kontrolle zu entgehen. Jafar Panahi oder Mohammad Rasoulof beherrschen diese Kunstform seit Jahren, zahlen aber auch einen hohen Preis dafür. Nun hat der Sohn von Jafar sich an ein Roadmovie gewagt und steht dem Vater in nichts nach. „Hit the road“ von Panah Panahi ist witzig, spannend, melancholisch und voller Liebe an ein unfreies Land.

1) Ö-Sin City
Die Optik von Sin City kombiniert mit der politischen Dystopie von Babylon Berlin ergibt „Hinterland“ von Stefan Ruzowitzky – und es ist überraschend frisch und fesselnd. Das Wien der 1920er Jahre mit all dem Dreck zwischen den beiden Weltkriegen wird faszinierend zum Leben erweckt und eine recht klassische Kriminalgeschichte um einen Serienmörder hält die Spannung hoch. Murathan Muslu gibt quasi den Marv und trägt den Film so gut, dass ihn nicht einmal Matthias Schweighöfer kaputt machen kann. Optisch ein Fest und inhaltlich gut genug für die große Leinwand (läuft seit Oktober im Kino).

Fazit – und ein sozialkritisches Schlagzeugsolo später…

Dieser Artikel wird jetzt kurz vor dem Jahreswechsel dringlicher, weil seit 16.12. endlich „Annette“ von Leos Carax die Kinos erreicht. Ob live im Kino oder später im Heimplex: Filme können gerade in schwierigen Zeiten mal die Gedanken abschalten oder zu neuen Perspektiven verhelfen und „Annette“ ist ein FEST! Marion Cotillard und Adam Driver singen Sparks-Songs beim Sex und die vierte Wand wird von Carax so konsequent immer wieder durchbrochen, dass man sich einfach dem kreativen Sog dieses Wahnsinns voll ergeben muss. Der Eröffnungsfilm von Cannes spaltet sicher die Geister aber eines ist er sicherlich nicht: konform oder konventionell. Also genau das Richtige für die Festtage…


* Disclaimer: Was mache ich hier eigentlich? Es ist gute Tradition, dass ich außerhalb meiner offiziellen Aufgabe (und Berufung) bei der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) seit fast 10 Jahren auch für die Kolleg_innen in Hamburg Filmdiskussionen moderiere im Rahmen des Filmfests Hamburg (dem sympathischsten Filmfest Deutschlands, ach was sage ich, der Welt!). Leidenschaft für Filme verbindet die Filmfestmacher_inner, die Kinofans und die Festivalgäste/Filmschaffenden miteinander. Die FES darf in der Sektion „Veto!“ mit einer eigenen Jury und einem eigenen Preis jedes Jahr den „Politischen Film der Friedrich-Ebert-Stiftung“ küren und im Rahmen der Screenings Filmgespräche führen, von denen eine Vielzahl ich moderieren darf. Die restliche Zeit nutze ich dann traditionell für eine Filmmarathonwoche, um so viel vom Festival aufzusaugen wie es nur geht.

** Wer das lieber akustisch möchte, dem sei der wunderbare Krempelcast empfohlen, wo ich die Folge 84 infiltrieren konnte. 

Eure Filmfest-Fran
 
 


In diesem wie immer wunderbaren Stück der Liga der Gewöhnlichen Gentlemen feiern die Hobby-Cineasten den "Charakterdarsteller" Robert Mitchum ab. Method Acting war nicht sein Ding und beim Hamburger Filmfest war er sicher auch nicht. Aber dennoch immer sehenswert. 
Seine Motto war: