Mit dem Titanic- Speedboat nach Waterloo – „Napoleon“ von Ridley Scott: Ein echtes historisches Ärgernis!
„Männer Frankreichs! Ihr tapferen und ruhmreichen Kämpfer von Austerlitz! Ihr, die ihr fast ganz Europa unterworfen habt, die ihr das Angesicht dieses Kontinents mit euren Händen neu geformt habt! Folgt mir in diese eine, letzte Schlacht – ja, sie wird blutig sein. Sie wird Schmerz, Verlust, Hunger, Kälte, all das mit sich bringen, was ihr schon aus ungezählten Schlachten kennt, die wir gemeinsam zuvor geschlagen haben. Viele werden den nächsten Morgen nicht erleben, werden nie mehr zu ihren Familien zurückkehren. Aber am Ende des Tages, wenn diese Schlacht geschlagen und gewonnen ist, dann werdet ihr auf euer Werk schauen, und ihr werdet wissen, wofür ihr gekämpft habt und wofür so viele von euch ihr Leben gegeben haben. Wisst ihr es?“
„Äh…Ruhm? Französische Werte und Ideale? Eine neue, bessere und gerechte Weltordnung? “
„Quatsch! Damit ich mit meiner Kutsche schnell wieder zu Josephine fahren und einen Erben zeugen kann! Also los jetzt, nun kämpft und sterbt schon, ich habe schließlich nicht den ganzen Tag Zeit!“
So oder so ähnlich müsste man eine von einem der größten Generäle der europäischen Geschichte zu erwartende Ansprache an seine Grande Armee formulieren, wenn man ihr halbwegs buchstabentreu jene Schwerpunkte zugrunde legt, die Ridley Scott in seinem neuen Leinwand-Machwerk Napoleon gesetzt hat. Als Zuschauender wird man ab dem Zeitpunkt, an dem man sich in den Kinosessel sinken lässt und Marie Antoinettes abgetrennter Monarchinnenkopf einem unmissverständlich die gesellschaftspolitische Sachlage des ausgehenden 18. Jahrhunderts verdeutlicht, während ein finster dreinblickender, jüngerer Napoleon dem tobenden revolutionären Mob innerlich distanziert bei seinem Treiben zusieht, auf die Spur einer blutigen Epoche der europäischen Geschichte gesetzt, die den Kontinent in seinen geographischen und politischen Entwicklungen entscheidend prägte. Bester Stoff also für ein Schlachtenepos, einen Politthriller, eine psychologische Studie, eine Anatomie der europäischen Gesellschaften am Rande von Revolution und Umbruch, ökonomischen und sozialen Verwerfungen, aufkommenden nationalistischen Strömungen und dem Kampf der ancien Regimes um ihr Überleben. Und wer könnte als Personifizierung dieses in Frankreich beginnenden und in kürzester Zeit fast ganz Europa in Brand setzenden Zeitenwechsels besser in Frage kommen als der stets von einer finsteren und verschlossenen Aura umwehte Joaquin Phoenix? Unvergessen seine Leistung als selbstsüchtiger, intriganter Kaiser Commodus im mittlerweile etwas angejahrten Streifen Gladiator, der ebenfalls aus der Feder von Ridley Scott stammt. Auch Phoenix Rolle als grandios diabolischer „Joker“ wies mehr als zu überzeugen. Vielleicht hat den Regisseur die Erinnerung an diese Leistungen dazu bewogen, nun auch die Schlachtfelder Europas mit diesem Darsteller umzupflügen; vielleicht hatte Phoenix seine damalige schauspielerische Leistung und im Vorbild Napoleon ein ähnlich infernalisches Entfaltungspotential vor Augen, als er Scott zusagte. Gut getan hat diese Entscheidung jedoch beiden nicht. Denn Napoleon ist in der Weltgeschichte durchaus ambivalenter zu betrachten, als eine Mischung aus Commodus und dem Joker. Und es gibt hierzu durchaus jede Menge historische Analysen. Das hat aber Ridley Scott wenig interessiert. So fragte er im Interview nach Kritik durch verschiedene Historiker lakonisch: „Waren Sie dabei?“.
Die geköpfte Marie Antoinette ist der Beginn einer rasanten Fahrt mit durchgedrücktem korsischem Gaspedal
Kaum ist aber der besagte Monarchinnenkopf zu Filmbeginn abgetrennt, kaum wird der Bürger Robespierre kurz in einer Ansprache vor dem Nationalkonvent gezeigt, da geht Phoenix wilde Reise entlang der napoleonischen Karriereleiter, die sich vom Offizier zum Feldherr, schließlich zum französischen Kaiser emporschraubt, in einem Tempo vonstatten, dass man sich fragt, ob Scott am Ende wohl Angst vor seinem eigenen Film, vor der kriegerischen Materie und der ihm zugrunde liegenden, finsteren Realpolitik bekommen hat, sodass er das korsische Gaspedal bis zum Anschlag durchgedrückt hält. Die Belagerung von Toulon, Napoleons Auftakt zu einer Serie erfolgreicher Feldschlachten, wird kurz angeschnitten, ihre militärstrategische Notwendigkeit ebenso, die sich daraus ergibt, dass England die französische Hafenstadt besetzt hatte und die frisch aus ihren blutigen Angeln gehobene Republik durch die Blockade eines wichtigen Handels- und Militärhafens empfindlich unter Druck setzte. Soweit, so klar, also stolpert Napoleon, als Schäfer getarnt, unter den Augen der englischen Besatzer an der Festungsmauer entlang, bespricht mit seinen Männern den Plan zur Erstürmung der Festung und übernimmt schon im nächsten Moment handstreichartig mit seinen eben noch miserabel ausgebildeten und schlecht ausgerüsteten Truppen die Festung von den dort stationierten, natürlich sturzbetrunkenen Engländern. Auf die Eroberung folgt nicht nur die Bombardierung und Vertreibung der englischen Flotte im Hafengebiet von Toulon auf einem visuellen Niveau, welches ich subjektiv irgendwo zwischen „Morgen besucht die Klasse 9 B ein CGI- Studio und darf dort eine halbe Stunden mit den Grafiktools spielen“ und „Wir recyceln irgendeinen dreißig Jahre alten Historienschinken, wird schon keiner merken“ verorten möchte, sondern es wird auch - lästige Schlachtszene hin oder her, jetzt kommen wir zum Kern des Ganzen- der Boden bereitet für das, was den Film in Scotts Augen anscheinend durch die kommenden Stunden tragen sollte: Romantik!
Kaum zerrt Napoleon also die Kanonenkugel aus dem noch warmen Körper seines treuen, dank eines englischen Kanoniers nun kopflosen Reittiers mit den sinngemäßen Worten „Schickt das meiner Mutter“ – eine Szene, die Scharen von Familienpsychologen händeringend zurückgelassen haben dürfte- können wir ihm über die Schulter schauen bei seinem nicht endenden Anbandeln, Umwerben, Schmachten, Eifersüchteln, Anbeten und Streiten mit und von der durchaus charismatischen Besetzung der Josephine de Beauharnais durch Vanessa Kirby, ihres Zeichens nicht nur Witwe eines von der Revolution dahingerafften Adeligen, sondern auch angehende Geliebte und spätere Ehefrau Napoleons. Die ausgiebige Inszenierung der Untiefen und Höhen der Beziehung zwischen den beiden wird kurz unterbrochen von der im Zeitraffer inszenierten Niederwerfung des Royalistenaufstandes im Oktober 1795, die der Film mit einem geschätzt zwanzigsekündigen „Seht da, eine Menschenmenge!“ – „Feuer!“ – „Aufstand Vorbei, Feierabend“ abhandelt. Gefolgt von einem ebenso dem Hochgeschwindigkeitstempo verhafteten Exkurs zu Napoleons Ägyptenfeldzug, der gerade unter kulturwissenschaftlich- archäologischen Gesichtspunkten von kaum zu überschätzender Bedeutung war und somit neben der einen oder anderen Schlacht sicherlich auch interessantes und erkenntnisreiches Historienmaterial geboten hätte; allein: im Film wird diese Episode mit einer geradezu lachhaften Geschwindigkeit abgehandelt. Man sieht Napoleon im slapstickhaften Zwiegespräch mit einer Pharaonenmumie, dann den Aufmarsch des osmanischen Heeres vor den Pyramiden, dessen Befehlshaber schließlich von seinem Pferd abgeworfen wird, als die Franzosen die Pyramiden bombardieren lassen. Fini, der Korse schreitet davon, die Schlacht ist gewonnen, wenden wir uns also wieder wichtigerem zu, nämlich, genau, der Beziehung zwischen Josephine und Napoleon.
Josephine, Josephine, Josephine, wo genau führt das nur alles hin?
Man ist noch bemüht, den Unterkiefer langsam wieder zu schließen und mit dem ungläubigen Starren ob der soeben gezeigten Szenen aufzuhören, als sich das Kinderkarussel aus Geopolitik und Groschenheftromantik schon wieder eilig weiterdreht: Josephine ist Napoleon untreu geworden, also jagt der gehörnte General zurück nach Europa und rast förmlich durch sein Land, um, ja, was eigentlich? Rache zu nehmen? Klarheit zu erzwingen? Sich über die englischsprachige Ausgabe einer französischen Tageszeitung zu ärgern, die ihm die Untreue seiner Frau vor Augen führt? Zu diesem Zeitpunkt ist die ägyptische Expedition wohlgemerkt abgeschlossen und vergessen; kein Wort mehr von einer legendären, wagemutigen militärischen Unternehmung, die im völligen Debakel endete, denn es braucht nun volle Aufmerksamkeit, maximale Konzentration der mittlerweile schon etwas befremdeten Zuschauerschaft für – man ahnt es bereits: Napoleon und Josephine. Die leidenschaftliche Besessenheit der beiden voneinander wird erneut zelebriert, daneben auch kurz ein paar Szenen zur Absetzung des Direktorats und Napoleons Aufstieg zum Ersten Konsul eingeblendet, aber man wird in dieser ganzen Zeit nicht den Eindruck los: wäre der Film künstlerisch völlig frei, würde er nur im Wohn- bzw. Schlafzimmer der beiden Protagonisten spielen, die lästige Weltpolitik gänzlich übergehen und hinter sich lassen, das zu dieser Zeit Europa mit dem Schwert neu geordnet wird.
Dieser Eindruck verfliegt auch nicht, wenn der Film die folgenden Meilensteine zu nehmen versucht: die Erhebung Napoleons zum Kaiser, die Schlacht von Austerlitz, die hier merkwürdigerweise auf einem zugefrorenen See stattfindet, sich auf geschätzte 300 Komparsen auf beiden Seiten beschränkt und anscheinend vor allem durch brechende Eisdecken und ertrinkende Soldaten als Stilmittel der Wahl die Bedeutung dieser Schlacht unterstreichen möchte. Auch hier wird man den Eindruck nicht los, dass das Ganze irgendwie lustlos, planlos, dafür fantasievoll und vor allem temporeich inszeniert ist: ein wenig Schnee und Eis hier, ein französisches Lager dort, dann eine Reiterattacke und ein Infanterieangriff – aus die Maus, die Österreicher und Russen rennen panisch übers Eis. Österreichs Kaiser Franz der Zweite darf eben noch erschüttert ein Glas Wein mit seinem Bezwinger Napoleon zu sich nehmen, da peitscht uns der Film schon wieder zu den nächsten Einstellungen: Napoleon braucht einen Sohn! Oh weh, Josephine scheint in dieser Angelegenheit nicht die beste Wahl gewesen zu sein, also darf der Kaiser der Franzosen nach erfolgreich bewiesener Zeugungsfähigkeit nicht nur die Ehe mit Josephine tränenreich annulieren, sondern uns Zuschauende auch auf diese entscheidende Etappe weltgeschichtlichen Schicksalsschmiedens mitnehmen. Ironie der wahren Geschichte über die französischen Revolutionäre: Obwohl sie eigentlich angetreten waren, das Monarchische abzuschaffen, so führt doch jetzt die Gebährunfähigkeit von Josephine genau dazu, dass diese große Liebe aufgrund dynastischer Verpflichtungen beendet werden muss (Im Film wird dargestellt, dass sich Napoleon gegenüber den anderen Herrschaftshäusern mit einem Sohn besser präsentieren kann bzw. mehr respektiert wird). Und schon geht es wieder weiter, denn frisch geschieden lebt es sich gleich noch einmal doppelt so leidenschaftlich, wie wir nun erfahren – Napoleon bleibt seiner Josephine verhaftet, auch wenn er nun der Gatte der österreichischen Thronfolgerin Marie-Luise ist und sie zumindest in einer kurzen Einstellung den Zuschauenden vorführt, bevor sie in der filmischen Versenkung verschwindet.
Moskau brennt – Ridley Scotts Filmrolle hat den Brand dennoch überlebt. Leider!
Die folgende Etappe mag jene Phase des Films gewesen sein, bei der Ridley Scott kurz aus seinem Liebesdrama- Diashow- Delirium erwacht ist und sich daran erinnert hat, dass er womöglich nicht vorrangig das Zielpublikum von Love, actually (Tatsächlich Liebe) vor Augen haben sollte, wenn sein neuestes Machwerk überzeugen und gelingen soll. Und so folgen wir Napoleon zum ersten Mal überhaupt in einem etwas gesetzteren Tempo auf seinen Russland-Feldzug, nach Borodino, schließlich nach Moskau, und wieder zurück durch die eisigen Steppen des russischen Winters. Mag auch die vorübergehende Abkehr vom Schmachten nach Josephine hier so etwas wie eine gravitätische Ernsthaftigkeit ob des zugrunde liegenden, so tödlichen wie vergeblichen, kriegerischen Unterfangens ermöglichen; dazu gepaart mit winterlichen, lebensfeindlichen Kamerabildern, düsteren Szenen, die Leid und Erschöpfung demonstrieren: die schlechte handwerkliche Inszenierung dieses Abschnitts lässt keine messbare Steigerung der Atem- und Herztätigkeiten der Zuschauenden oberhalb ihres Ruhepulses zu. Ein paar zerlumpte Gestalten schleppen kleine Mörser durch irgendeinen Wald, schießen ein paar Geschosse auf die französischen Kolonnen, verschwinden wieder – damit hätten wir auch das Thema russischer Partisanenkrieg erfolgreich abgehakt. Moskau schließlich, dass im Wesentlichen aus der Kremlkirche und einigen dunklen Mauern und Häusern zu bestehen scheint, bevor diese vom von den Russen selbst entfachten, verheerenden Stadtbrand verschlungen werden, dient Napoleon als Spiegel für seine Ambitionen und sein Scheitern: die leergefegte Stadt, der von Taubenkot verdreckte Thron, die zerschlissene Armee im Rücken verdeutlichen, dass sein Russlandfeldzug nicht nur vergeblich und gescheitert ist, sondern auch zehntausende Leben gefordert hat, ohne ihn seinem Traum – der Anerkennung als Gleicher unter den Gleichen der europäischen Herrscherhäuser – näher zu bringen. Für uns als Zuschauende verdeutlichen diese Szenen wiederum vor allem eins: schnell, schnell, weiter mit der Weltgeschichte, denn wir müssen doch vor allem und zuvorderst, man ahnt es bereits: zu Josephine.
Natürlich wird kurz das Exil auf Elba erwähnt, bevor Napoleons Rückkehr auf französischen Boden ansteht, um schnellstmöglich zu seiner ernsthaft erkrankten irgendwie-immer-noch-Gattin zu gelangen. Doch diesmal ist es zu spät; Josephine ist dahingerafft von der Tuberkulose, der Rückkehrer ist untröstlich. Und so zieht der Film seinen Ende entgegen, wie auch Joaquin Phoenix nach seiner Rückkehr aus Elba einer Kolonne französischer Soldaten entgegenzieht und sie schließlich zum Überlaufen auf seine Seite bewegt: mit ein paar nichtssagenden, aber vor Pathos triefenden Sätzen, ein paar fixen Kameraschwenks und der Gewissheit, dass einfach zu wenig Zeit bleibt, um diese enorme historische Vorlage in ein halbwegs kinofilmtaugliches Format zu pressen. In seinen letzten Einstellungen unternimmt der Film kurioserweise etwas, das in den vorangegangenen zwei Stunden vollständig verzichtet wurde: mit Rupert Everett als Arthur Wellesley, Duke of Wellington wird so etwas wie ein charismatischer Antagonist eingeführt, dessen wunderbar verkörperte aristokratische Verachtung für alles niedere, nicht-britische, gepaart mit seiner Brillanz als Feldherr einen gelungenen Kontrast zu Napoleon bietet, an dessen finsterer Miene, seinen erratischen Ausbrüchen und fehlender tiefenpsychologischer Greifbarkeit man sich inzwischen mehr als satt gesehen hat. Es kommt sodann in Waterloo, wie es auch historisch kam, und irgendwie ist man erleichtert, als dem Duke sein Meldereiter zuraunt: „Die Preußen kommen!“ –auch Ridley Scott hätte bei wohl den einen oder anderen Meldereiter gebraucht, der ihm in dieser Hinsicht die Bedeutung Preußens für den europäischen Kriegsschauplatz und Napoleons Aversion gegen den teutonischen Hauptkontrahenten aufzeigt, denn der Film übergeht diesen Aspekt wie auch die bloße Existenz der märkischen Kartoffeln- und Soldaten-Monarchie ansonsten geflissentlich.
Müsste man für diese hyperaktive Diashow durchs europäische 18. Jahrhundert samt Erkundung des Liebeslebens des Protagonistenpaars nun abschließend ein Sinnbild bemühen: der triefende Kitsch einer an der Bugspitze der Titanic stehenden Kate Winslet und Leonardo Di Caprio, beschleunigt um den Faktor 200 und reduziert um jegliche Charaktertiefe abseits der Verbindung zwischen Phoenix und Vanessa Kirby, umweht von Schlachtenwolken und Gefechtslärm, von dem man schon gar nicht mehr weiß, woher er kommt und wohin er weht, weil alles dermaßen stakkatohaft und zusammenhanglos abgehandelt und lieblos, zum Teil auch faktenfern dahingeschleudert wird, wäre wohl das treffende und betrübliche Bild für einen Film, der so viel mehr hätte sein können und so grandios die Erwartungen der geneigten Kinobesucher vergeigt. Und so, wie der unvermittelt dahingeschiedene Napoleon in der Abschlussszene einfach auf seiner Sitzbank umkippt, erging es wohl auch dem einen oder anderen Kinozuschauer, der in den zurückliegenden Stunden vor Langeweile mehrfach fast vom Kinosessel gerutscht wäre, während man nun denkt: gescheitert an sich selbst, das gilt sowohl für den Film wie auch für den historischen Napoleon. Und damit ist der Streifen doch wenigstens ein einziges Mal authentisch.
Robert Duke of Falkensee
…und ein sozialkritisches Schlagzeugsolo später
Wir haben für diesen ersten richtigen Verriss auf dieser Seite denjenigen „beauftragt“, der als unsere kritische „Edelfeder“ gilt. Robert findet selbst bei einigermaßen passablen Marvel-Darstellungen jedes Haar in der Superhelden-Suppe, schiebt murrend sein preußisches Kinn nach vorne und seziert alle Untiefen haarklein auseinander. Genau in der Art, wie ein preußischer General auf dem Feldherrenhügel im Zelt vor der Schlacht wohl seine Kartoffeln seziert haben muss. So messerscharf, dass wir oftmals unsere Meinung nach einem Film und seinem dazugehörigen Kurz-Monolog ändern bzw. präzisieren müssen. Hier war es nicht so! Wir kamen aus einem kleinen Spandauer Kino und waren uns allesamt einig: Was für eine Enttäuschung! (Und über die vermeintliche, historisch nicht genau verbriefte, aber im Film sehr genau angedeutete Liaison zwischen dem jungen russischen Zaren Alexander und Napoeleons Josephines hat Robert oben noch gar nichts geschrieben. Gossip im 19. Jahrhundert!, das gefällt Ridley Scott offensichtlich) Dabei hatten wir uns auf „Napoleon“ zum Ende des Jahres wirklich sehr gefreut. Ridley Scott muss wirklich die Franzosen hassen. Und die Preußen jedenfalls so sehr verachten, dass er sie mit absoluter Missachtung straft. Wir haben uns nicht die Mühe gemacht, alle historischen Ungenauigkeiten aufzumetern. Das haben schon Leute gemacht, die Filmkritiken hauptberuflich machen. Aber es ist wirklich schon unfassbar, wie hier Geschichtsklitterung betrieben wird. Ein britischer Historiker beschreibt treffend, dass es Leute gibt, die genau glauben mögen, dass es genauso war, wie der Film zeigt und führt die amerikanischen Freunde dabei als Beispiel an.
In Spielfilmen muss man immer Abstriche bei historischer Tiefe machen. Das ist in einem gewissen Rahmen OK. Aber warum hat sich Scott dann genau diese Perspektive ausgesucht? Eines der am meisten erforschten Themen Europas! Es wäre ein Leichtes gewesen, die Geschichte entweder korrekter aufzuzeigen oder aus der Perspektive eines fiktiven Beobachters (wie es zum Beispiel Robert Harris bei seiner Buch-Trilogie zum alten Rom gemacht hat) darzustellen. Aber es musste wohl unbedingt diese Mischung aus Schlachtengedöns mit Liebesschmonzette sein, um ein möglichst breites Publikum anzusprechen. Die Jungs kommen wegen der Schlachten, die Mädels wegen der Liebe. Allein dass Ridley Scott mittlerweile so einfach über Kinopublikum denkt, spricht Bände. Mit „Alien“, „Blade Runner“ und auch irgendwie mit „Gladiator“ hat Ridley Scott früher großartige Werke geschaffen. Wenn man diese mit Napoleons großen Siegen wie dem Italien-Feldzug, Austerlitz und Jena/Auerstedt vergleicht, so ist der Film „Napoleon“ vielleicht dann doch eher die Völkerschlacht von Leipzig, die ironischerweise gar nicht in der Version des Films vorkommt. Ob die noch zu erwartende 4,5 stündige Apple-TV-Version des Films oder der bereits angekündigte „Gladiator 2“ dann sein endgültiges Waterloo wird, werden wir weiter kritisch beobachten!
Wir haben hier für Euch ein paar Links und Empfehlungen zusammengestellt, die das ganze Thema viel besser ablichten als Ridley Scott:
Waterloo - Film von 1970 (in voller Länge bei YouTube!)
Das Duell von Napoleon und Metternich - Arte Doku
Austerlitz - Napoleons langer Marsch zum Sieg - Arte Doku
Es war einmal...der Mensch - Folge zur Französischen Revolution in der ZDF-Mediathek
Krieg und Frieden - Film von 1966 (Trailer hier)
Napoleon - TV-Serie von 2002 (Trailer hier)
Des Weiteren empfehlen wir diesen Text des Magazins Jacobin, dessen Name alleine schon aussagt, auf welcher Seite der Geschichte es steht.