Prolog:
Ein schöner Name für diese Seite wäre auch "Das Internet der Dinge" gewesen. Bevor Ihr aber anfangt, von "Dingen von denen" ich gar nichts wissen will zu reden, bleibt es so wie es ist.

Von woanders kommt die Kraft.
Wenn der Wind den Schnee zusammen jagt,
brauen wir uns einen heißen Saft.
Seht, in meinen Augen spiegeln sich alle Dinge umgedreht.
Hier im Nebel sind wir alle gleich.

 

Es gibt nur einen Gott – BelaFarinRod
„Die Bestie in Menschengestalt“ von Die Ärzte ist endlich wieder auf Vinyl erschienen.
 

Neulich. Neulich. Neulich. Na was? Wer bei diesen Worten wohlige Gefühle bekommt und sofort anfängt zu singen (bzw. zu rappen), dass es gar nicht lange her ist und eine wunderschöne Dame getroffen wurde,  wird sich vielleicht über dieses Special freuen. Vor allem weiß ein/e gewiefte Hörer*In dann sofort, um was es geht oder auch "Wie es geht". Für die anderen, die aber vielleicht Interesse zeigen, sei es hiermit erklärt, wie der Punk erfunden wurde. 
 
Letzten Sonntag saß ich im Auto und habe die Sendung „Die Blaue Stunde“ mit Serdar Somuncu gehört. Dort gibt es ein Feature, wo Serdar und sein Co-Moderator sich gegenseitig Songs anspielen. Der andere muss dann nach wenigen Sekunden erraten, um was es sich handelt. Ein Format, was mich normalerweise nervt, da die Lieder dann nie wirklich gespielt werden und die beiden dann während der Songs noch lange weiter quatschen. Eigentlich aber eine ganz schöne Sendung bei Radio Eins.
 
An jenem Sonntag bin ich aber fast durchgedreht. Es wurde hörbares Geknutsche und Gefummel eingespielt und ich wusste sofort, um was es sich handelt. Serdar aber nicht! Es zog sich ewig in die Länge und ich hatte größere Leiden als der Protagonist in „Zu Spät“ oder „Teenagerliebe“. Natürlich war es das Intro des „Dingleberry-Mix“ von „Radio brennt“ von der „Das Beste von kurz nach früher bis jetze“.  Serdar hielt das für Fettes Brot oder Fanta 4 und war verwundert, dass Die Ärzte rappen.

Ernsthaft? Ist er auch „Unrockbar“? Wollte er nie „Madonnas Dickdarm sein“? Hat er keine „Ewige Blumenkraft“? „Und ich weine“! Denn anscheinend kennt er auch eines der zentralen Die Ärzte-Alben gar nicht: „Die Bestie in Menschengestalt“ von 1993. Denn hier gibt es gleich mehrere Rap-Anleihen. Und vieles mehr.
 
Ich schrieb schon einmal an anderer Stelle über mein besonderes Verhältnis zu Die Ärzte. Das soll hier nicht wiederholt werden. Aber vielleicht doch noch einmal ein paar kurze Worte dazu. Die Ärzte sind eine wunderbare Einstiegdroge für 14 bis 17-Jährige, um dann andere coole Sachen zu hören. Wenn man einmal drauf war, kann man sich zwar loseisen und weiterentwickeln und auch wenn man sich dann den Drogen vorerst entzieht und „Lieber Tee“ trinkt, gibt es regelmäßige Die Ärzte-Rückfälle. Immer wieder! Wahrscheinlich auch über das Bestehen der Band hinaus.

Bei mir waren es diese Woche neben der oben aufgeführten „Blauen Stunde“ ein wunderbarer Podcast über die jetzt gestartete Berlin-Tour von Die Ärzte. Jeden Tag ein neues Konzert und neue Oberthemen. Hört mal rein. Und wenn Ihr dann auf den Geschmack gekommen seid und sehr sehr viel Zeit habt, empfehle ich den Podcast „Ein Lied für Dich“. Hier haben sich zwei Leute zum Ziel gemacht, zu jedem je erschienenen Die Ärzte-Song eine halbe Stunde zu quatschen. Es gibt jetzt schon fast 200 Folgen. Und wenn Ihr das hier bei ZuArchitekturTanzen verrückt findet, hört da mal rein.

Für die Puristen unter Euch habe ich jedoch eine ganz einfache Empfehlung: Kauft Euch die jetzt wieder neu aufgelegte Vinyl-Version von „Die Bestie in Menschengestalt“. Es lohnt sich. Und ich schreibe sogar ein paar Worte darüber, warum 😉.

Es ist 1993 und die Ärzte bräunen sich nicht mehr in der Südsee, sondern sagen den Braunen den Kampf an!
Als „Die Bestie“ 1993 rauskam, war sie das Ende einer fünfjährigen Bandpause. Die Ärzte hatten sich 1988 mit einem fulminanten Abschiedskonzert auf Sylt aufgelöst. Das dazugehörige Live-Album ist legendär.  Über die Historie der Band will ich hier gar nicht weiter schreiben. Es gibt zwei Bücher, die zu empfehlen sind. Das weitaus dickere ist dabei „Das Buch ä. Die von Die Ärzte autorisierte Biographie“ von Stefan Üblacker. Mit Fußnoten 767 Seiten und 2016 erschienen. Viel schmaler sind die in der Reclam-Die-Ärzte-100-Seiten-Ausgabe erschienenen Worte von Stephan Rehm Rozanes über die Beste Band der Welt. Drei positive Dinge hierzu: Erstens ist es sehr kurz. Zweitens ist es mit dem Erscheinungsjahr 2021 recht aktuell. Und Drittens ist der Autor 1980 geboren. Unsere Generation findet sich also in ihm ganz gut wieder. Wie bei fast allen bei ZuArchitekturTanzen aufgeführten Büchern habe ich diese zwar nicht gelesen, empfehle sie aber trotzdem!

Was man aber zur „Bestie“ wissen muss und meines Erachtens weitaus bedeutender ist, ist die Zeit, in der es mit dem wichtigsten Lied „Schrei nach Liebe“ darauf rauskam. Saskia von Schrottgrenze sagt in dem weiter unten aufgeführten Interview noch ein paar sehr wichtige Worte dazu. Dem will ich nicht vorgreifen, daher folgen jetzt meine persönlichen Top 5 zu „Die Bestie in Menschengestalt“ von „Die Ärzte“, explizit ohne „Schrei nach Liebe“. Naja, vielleicht nicht ganz:

Die Singles: Fangen wir also  mal mit den Singles an. Neben „Schrei nach Liebe“ erschienen noch „Friedenspanzer“, Mach die Augen zu“ und „Quark“. Letztere jedoch in einer neuen Version, die wiederum dann auf dem Best Of-Album „Das beste von früher bis jetze“ 1994 erschien. Der Text war 135% politisch korrekt, direkt auf die Politik gemünzt und hatte ein wunderbares Intro: „Ich möchte ein Welt, in der man aus einer Toilette trinken kann, ohne Ausschlag zu bekommen“. Das hat sogar Robert Habeck kopiert. Ist jedoch hier etwas falsch zitiert. Die Ärzte haben es ihrerseits von der Nackten Kanone 2,5 geklaut. Wie immer lohnt es sich, die B-Seiten anzuhören und Besonderheiten zu beachten. So ist auf der „Schrei nach Liebe“-Single nicht „Schrei nach Liebe“ der erste Song, sondern „Wenn es Abend wird", der letzte Song auf der "Bestie". Zu diesem Song wird aber hier kein weiteres Wort verloren. Hört es auch an, oder auch lieber nicht. „Ja(Demo)“ ist hierauf aber eigentlich ganz schön. Auf der „Mach die Augen zu“-Single lohnt sich „25 Stunden am Tag“ und auf der „Quark“-Single das Intro zur „Tour Tour“ mit dem wunderbaren Titel „Ein Haufen Gebrösel in D-Moll“. Und der „Friedenspanzer“ steht in heutigen Zeiten ohnehin für sich und ist wichtiger denn je! Genau wie „Mit dem Schwert nach Polen, warum René?“ als Album-Track. Ja , man fragt sich wirklich 2022 noch: Warum? Wie viel mehr kann man noch ertragen?

Rap-Songs: Wie oben aufgeführt ist Rap keine Besonderheit bei Die Ärzte. Zumindest nicht auf der „Bestie“. So finden sich bei „Hey Huh (in Scheiben)“ hart gerappte Textpassagen und auch bei „Gehirnstürm“ rappt Bela B. fleißig vor sich hin zu Samba- Sound und wunderbaren Einlagen von Heinz Strunk. Bela betont aber, dass er „erst recht kein Mutterf***er“ sei. So kriegt die Rap-Szene, bzw. die Fanta 4 direkt mit FaFaFa so richtig was ab. „Und tschüss, Du Rapwi***er. Du willst Gettho? Kannste haben, alter. Schluss mit Kaspermucke.“ Und so folgt dann auch mit „Deutschrockgirl“ die Verteidigung des deutschen Rock bzw. des Deutschrock! Rock-Pop National! Die Liga der gewöhnlichen Gentleman haben hier sicher ihre wahre Freude dran.     

Liebeslieder: Wie Saskia unten sagt, sind auch aus meiner Sicht die romantischen Liebeslieder mit  die schönsten Die Ärzte-Lieber. Und so gibt es auch auf der Bestie einiges davon. Natürlich „Mach die Augen zu“! Aber was ist bitte „Für uns“ für ein wunderbar herzzerreißendes Melancholie-Stück? Als Teenager half mir der Song über jegliche Herzensbrüche. Und auch Rod startetet mit „Dos Corazonos“ seine Liebeslieb-Orgien. Irgendwie ist auch die „Allerschürfste“ ein Liebeslied, genau wie „Omaboy“. Doch dazu auch unten im Interview mehr. Ich würde auch „Schopenhauer“ als Liebeslied sehen und vielleicht auch „Kopfüber in die Hölle“. Die romantisierende Version der Paar-Revolution wird zwar später von einer anderen Band aus Düsseldorf mit „Bonnie und Clyde“ zelebriert, aber hier gilt das altbekannte Credo: Es gibt nur einen Gott – BelaFarinRod! 
 
Artwork, Titel, Cover: Der kleine Teufel mit Schniedelwutz auf dem Cover in Gelb ist recht schnell ikonisch geworden. Nicht ganz so wie die Banane von Andy Warhol bei Velvet Underground, aber schon mit einem unfassbaren Wiedererkennungswert. Bei der „Mach die Augen zu“-Single findet sich sogar eine Nahaufnahme in den Schritt des Die Ärzte-Teufelchens. Natürlich macht das Ganze in der großen Vinyl-Version noch viel mehr her. Das Gesamt-Artwork und auch das Booklet sind ansehnlich, aber auch irgendwie typisch 90er Jahre. Aber nicht im 90er Jahre-TwoUnlimited/DrAlban-Sinn, sondern eher im ikonischen Nirvana/Rage Against The Mashine-Style. Und der Titel „Bestie in Menschengestalt? Der steht auch 2022 für sich.
 
Impact und Legacy: Einfluss und Erbe dieser Platte sind für Deutschland gar nicht hoch genug anzusiedeln. Nach fünf Jahren Abstinenz kamen Die Ärzte in einem wiedervereinigten Deutschland zurück, das auf einmal ganz andere Probleme hat. Für viele – auch für mich – war dieses Comeback ein Geschenk für die spätere musikalische Entwicklung. Ich möchte behaupten, wer als Teenager Die Ärzte „verstanden“ hat, der wird später keinen schlechten Musikgeschmack haben. Es gibt Ausnahmen, sicher, aber Onkelz oder Xavier Naidoo werden sich dann wohl eher nicht in den Plattensammlungen finden. Hoffe ich jedenfalls!
 
Fazit: …und ein sozialkritisches Schlagzeugsolo später
Ich fasse mich an dieser Stelle kurz. „Die Bestie“ ist ein echter "Classico“. In vielerlei Hinsicht. Und die Band hat damit Geschichte geschrieben, auch Jahre später noch, als im Rahmen der „Aktion Arschloch“ „Schrei nach Liebe“ 2015 auf Platz 1 der deutschen Charts stürmte. Die Band selbst hat Folgendes dazu gesagt:

„Die Ärzte finden es gut und wichtig, dass im Radio Stellung bezogen wird. Die Aktion wäre auch mit jedem anderen Anti-Nazi-Song cool. Wenn es unser Lied sein soll, unterstützen wir das aber natürlich gern. Wir wollen an dieser Sache definitiv nichts verdienen und werden alle Einnahmen von „Schrei nach Liebe“ (auch aus der GEMA) an Pro Asyl spenden. Wir wünschen allen Nazis und ihren Sympathisanten schlechte Unterhaltung. Bela, Farin, Rod.“

Und auch damit haben sie wieder mein Herz erwärmt. Wie sooft im Leben. Ich mag sie zwar nicht mehr ganz „Wie am ersten Tag“. „Jez(t)z ist anders“ irgendwie. Aber diese eine Liebe wird nie zu Ende gehen…


Epilog:

Dann kommt der Fuchs und frisst sie alle, alle auf!

Es folgt jetzt ein Interview mit Saskia Lavaux von Schrottgrenze, die selbst in Heilbronn am 24. Juni als Vorband von Die Ärzte spielen (es gibt noch Tickets!). 

Ich habe versucht, Saskia mit pseudo-kritischen Fragen dazu zu bringen, dass sie den Denkmalsturz bei Die Ärzte begeht und ich es nicht selbst machen muss. Wie Ihr lest, ist sie aber viel zu schlau dafür :) ! Hätte ja klappen können, aber bei Die Ärzte hätte ich es mir auch denken können. Wer nicht ganz und gar "Unrockbar" ist, hat eben Respekt vor dieser Bänd!   

Danke an Saskia für Zeit, tolle Worte und das großartige Foto (Credits: China Hopson)!

Interview:

1. Was ist Eure persönliche Beziehung zur „Bestie“ und zu Die Ärzte im Allgemeinen?

Mit "Schrei nach Liebe" haben Die Ärzte einen Klassiker und zugleich den bestmöglichen Comeback-Song rausgebracht. Der Song krachte direkt in die schwere Zeit nach den Nazi-Anschlägen in Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda und weiteren Orten und war ein antifaschistisches Statement, dass es zu der Zeit unbedingt brauchte und in der deutschen Rocklandschaft auch so noch nicht gab. Daher ist die LP natürlich ebenfalls wichtig, aber ich mag die ersten vier Ärzte-Alben vom Sound lieber und die nachfolgende Platte "Planet Punk" auch. Das dritte Album namens "Die Ärzte" hab ich als Kind am liebsten gehört. Es ist sehr romantisch und eher düster und ich feiere es bis heute sehr.


2. Ihr habt ja selbst durch zahlreiche Alben unendlich viel Auswahl bei der Setlist für Konzerte. Bei Die Ärzte ist das schier unergründlich. Ich glaube, weit über 200 Songs. Habt Ihr ne Idee, wie man da irgendwie eine Setlist hinbekommt?

Je mehr Material da ist, desto schwerer wird die Auswahl der Live-Stücke. Die Länge der Konzerte von Die Ärzte zeugt ja auch davon, das eine kurze, knappe Auswahl da schon fast nicht mehr möglich ist. Wie sie die Auswahl treffen, kann ich dir nicht sagen. Wir besprechen bei den Proben die Sets immer zusammen und spielen tendenziell immer gerne neue Songs und zudem ältere Singles oder Live-Favoriten. Von älteren Platten spielen wir gerne mal "Period Pieces" (kleine Anmerkung des Redakteurs: Ich dachte erst. "Period Pieces" wäre ein Schrottgrenze-Song, den ich noch nicht kenne und wollte ihn gleich googlen:), aber die halten sich oft nicht lange im Programm. Das sind dann Specials. Bei uns kann man die Sets ganz gut thematisch ordnen, das macht's etwas leichter, den Überblick zu behalten.
 

3. Auch auf der „Bestie“ sind Songs, die zwischenmenschliche Beziehungen und auch immer wieder Sex thematisieren. Ich weiß, dass das Album jetzt fast 30 Jahre alt ist und Die Ärzte das immer meta-ironisch meinen. Aber was sagt Ihr als queer-feministische Band heute zu Songs wie „Claudia“ (Teil 95 und natürlich die davor), zu „Die Allerschürfste“ oder „Omaboy“?

Also dass Claudia gestorben ist fand ich schon skandalös. - ironie off -  Da sie ja "nicht auf Jungs stand" und sexuell sehr selbstbestimmt agierte, klang in den Claudia-Songs wenigstens ein Bild von sexueller Emanzipation an. "Omaboy" provoziert auch und gerade das ist der Kern: Die Leute dachten noch bis vor wenigen Jahren wirklich ältere Menschen hätten keinen Sex. Beziehungsweise wenn, dann bitte für die Öffentlichkeit unsichtbar.  Das bricht der Song mit seiner intergenerationalen Fantasie auch schön auf. Viele Aspekte, grad bei den Claudia-Songs waren pure Provokation, die mensch durchaus geschmacklos, sexistisch oder unangebracht finden kann. Aber man sollte sich den zeitgenössischen Kontext der Songs vor Augen führen: Die Deutschrocklandschaft der BRD war damals noch biederer, bigotter und schlageriger als heute. Perspektiven wie Queerfeminismus waren in Deutschland noch lange nicht präsent. Und daher lese ich viele dieser Songs eher als eine Form von demonstrativer Provokation gegenüber dieser biederen gesellschaftlichen Grundstimmung. Ich höre heute dennoch lieber Ärzte-Songs wie "Für immer" oder "Zum letzten Mal". Die romantischen, zärtlichen Ärzte quasi. 


Die Fantastischen 4 haben irgendwann später auch auf FaFaFa geantwortet: