Die Ärzte vom Hellen ins Dunkle: Immer mitten in die Fresse rein!
Das neue Album der „besten Band der Welt“ ist in vielerlei Hinsicht ein dickes Brett.
 

Ouvertüre zur Besten Band der Welt:

Der erste Teil dieser Plattenkritik zu „Dunkel“ ist als Fanservice-technische Einleitung geschrieben. Wer sich noch nicht im Ärzte-Kosmos als „Lustiger Astronaut“ zurechtfindet, kann gerne bei der zweiten Zwischenüberschrift des eigentlichen Textes weiterlesen oder es „Wie am ersten Tag“ einfach doch von vorne versuchen.


Tatort Peine, 1995:
 
Drei 14-jährige Jungs schnappen sich in der großen Pause ihre Räder, fahren damit zum heute nicht mehr existenten Plattenladen Catholy in die Innenstadt und: „Sie tun es!“. Mit ihrem Taschengeld kauft sich jeder von ihnen das erste Mal (aber auf lange Zeit nicht „Zum letzten Mal“) eine Ärzte-Single am Erscheinungstag. Noch nicht einmal im Regal beim Händler einsortiert wirkte „Ein Song namens Schunder“ wie Goldstaub. Natürlich fuhr man dann wieder zurück zur Schule. Mit der CD zuerst zum Hören nach Hause – das war für die Drei keine Option. Keiner wollte sich lange vor Erscheinen der gleichnamigen späteren Single von seinen Eltern anhören müssen: „Junge, warum hast Du nichts gelernt?“.
 
Die drei haben den 80er Hype um die „Beste Band der Welt“ altersbedingt verpasst. Den „Schrei nach Liebe“ kannte man aus dem Radio und war bei Erscheinen der ersten Single nach 5-jähriger Bandpause noch nicht so weit mit Punkrock („Ist das noch Punkrock?“). Ich selbst hörte Queen und – nunja, es waren die 90er – Culture Beat, Two Unlimited und Rednex. Wir verbrachten damals alle sehr viel Zeit im Haus meines besten Freundes. Seine Schwester, die schon immer den besseren und moderneren Musikgeschmack hatte, lieferte den Soundtrack für die Zeit: „Das Beste von ganz früher bis jetzte“. Die Best-Of Platte lief rauf und runter und wenn man die Ärzte lange genug hört, dann muss man Fan werden oder man ist und bleibt auch „Für immer“ „Unrockbar“. Der Song zum Haus am Damm (nicht am See, sondern an der Fuhse) war damals „Gaby gibt ne Party“. Aber natürlich auch „Zu spät“ in einer der vielen Versionen, „Westerland“ mit Metall-Einflüssen, „Bitte, Bitte“, „Quark“ in aktualisierter Version, „Grace Kelly“ und viele mehr. Wo soll man da anfangen und wo hört man auf? Gute Frage!  Wir hatten jedenfalls alles in allem eine „Gute Zeit“.
 
Nunja, ich habe mir dann zuerst „Die Bestie in Menschengestalt“ besorgt und nach und nach alle bis dato erschienen Alben und natürlich die neuen Alben „Planet Punk“ und „Le Frisur“ samt aller dazu gehörigen Singles gekauft. Die Ärzte waren immer eine Band, die auf den B-Seiten den Platz für kreative Experimente und Songs, die es nicht auf das Album geschafften haben, intensiv zu nutzen wusste. Große innere Freude kam natürlich bei den indizierten Scheiben auf. Diese mussten teilweise extra vorbestellt werden bzw. waren ohnehin nur auf Nachfrage unter der Ladentheke erhältlich. Ich möchte mich noch heute ganz herzlich bei allen ehemaligen Catholy-Mitarbeiter*Innen bedanken, die uns trotz fehlender Volljährigkeit diese „Bückware“ ausgehändigt haben!
 
Ja, wir wurden wie viele Jugendliche in dem Alter echte Fans von den „Super Drei“, die drauf und dran waren, uns alle zu machen. Sogar mit einer eigenen Mappe, in der wir sämtliche Schnipsel, die wir über die Band finden konnten, sammelten. Wir fuhren gemeinsam zu unserem allerersten Konzert überhaupt ins beschauliche Uelzen, wir investierten unser ganzes Taschengeld in Shirts und Hoodies von DÄ, wir gründeten auch wegen der Ärzte unsere eigene Band, ohne je ein Instrument gelernt zu haben und – natürlich für Jungs in dem Alter eine wichtige Sache – wir lernten auch über die Liebe zu den Ärzten interessante Mädchen kennen. Keine 2000, aber schon ein paar wichtige. Wenn Ihr diese tiefenpsychologische musikalische Selbstanalyse bis hierhin gelesen habt, werdet Ihr verstehen, dass es mir nicht ganz so leicht fällt, eine rein objektive Plattenkritik zum neuen Album „Dunkel“ zu schreiben. Aber wann ist ein Kritiker schon objektiv? Also frage ich Euch mit den bekannten Ansagen „Sex mit Möbelstücken, was halten Sie davon?“, „Wieviel sind 2000 Mädchen?“ und „Wollt Ihr das totale Brötchen?“ – dann auf Kamerad*Innen, vom Hellen ins Dunkle!
 
Von „Hell“ zu „Dunkel“
 
Lange war es still um die Ärzte. Nach dem 2012 erschienen Album „Auch“, das insbesondere ältere Fans wie mich massiv enttäuschte, legte die Band eine kreative Schaffenspause ein. Besser so, denn „Auch“ ist das einzige Album der Band, das ich selbst nicht habe. Und das fällt einem auf Vollständigkeit fokussierten Plattensammler wirklich schwer. Aber Songs wie „M+F“ oder „Waldspaziergang mit Folgen“ haben es irgendwie nicht verdient, in dieser Sammlung zu stehen. Gitarrist Farin Urlaub und Schlagzeuger Bela B. konzentrierten sich auf ihre Solo-Sachen. Bassist Rodrigo Gonzales, wahrscheinlich der beste Musiker der Band, konzentrierte sich auf das Produzieren und Managen von Platten und drehte sogar einen eigenen Film über die chilenische Musikszene. Auch Bela wirkte als Schauspieler und beteiligte sich sogar am Comicschreiben. Farin Urlaub gab hingegen Fotobände über seine zahlreichen Reisen heraus. So spekulierten zahlreiche Fans spätestens mit dem angekündigten Song „Abschied“ fleißig über das Ende der Band. Der Song entpuppte sich aber als Bekenntnis zu einer neueren Fokussierung auf den Schutz der Erde. Mit „Ein Lied für Jetzt“ lieferten die Ärzte dann auch eines der besten Corona-Lieder in dieser düsteren Zeit.

Im Rahmen der Promotion zur Platte „Hell“ spielten sie sogar das Tagesthemen-Intro live in der Sendung und lieferten dann gleich ein klares Statement zur Situation von Künstler*Innnen im Gespräch mit Ingo Zamparoni. Vor einem Jahr erschien (Oktober 2020) „Hell“. Nach 8 Jahren Albumabstinenz und einem Vorgänger, der wie bereits beschrieben massiv enttäuschte, lag die Messlatte hoch für die selbst ernannte beste „Band der Welt“. Die Fans wurden nicht enttäuscht! Mit den Singles „True Romance“ und „Ich, am Strand“, dem Oi-Gassenhauer „Alle auf Brille“ oder „Thor“ („Chris Hemsworth hat meinen Körper geklaut!“) fanden die Ärzte wieder zurück in die Erfolgsspur. Insgesamt ein wunderbares und abwechslungsreiches Album mit eingängigen Songs. Letzteres lässt sich von „Dunkel“, dem Nachfolgealbum ein Jahr später, nicht wirklich sagen.

Ein bisschen liegt es vielleicht daran, dass viele der zentralen Lieder auf der Platte von Bela B. stammen. Der Steh-Schlagzeuger war immer bekannt für etwas mysteriösere und verschrobene Songs. Farin schrieb hingegen die Hits. Das ist vielleicht etwas kurz gegriffen, aber trifft es schon einigermaßen. Insbesondere im Vergleich von „Hell“ und „Dunkel“. Auf „Dunkel“ sind mehr Bela-Songs im Fokus der Platte, was natürlich wiederum zu seiner immer wieder kultivierten Beziehung zur Nacht, zu Vampiren, der Farbe Schwarz im Allgemeinen und allem, was sonst dazu gehört, passt. Auf „Hell“ sind mit „Warum spricht niemand über Gitarristen?“, „Das letzte Lied des Sommers“ und den bereits erwähnten Singles „Ich, am Strand“ und „True Romance“ die besten Songs von Farin geschrieben. Auf „Dunkel“ lässt sich das ausnahmsweise nicht so sagen. Auch wenn die Single „Noise“ von beiden zusammen geschrieben wurde, was tatsächlich sehr selten vorkommt, so hat die Platte eindeutig Bela B.-Schlagseite. Was sie auch etwas schwerer zugänglich macht. So hört man über seine Neigung zum Dunklen im gleichnamigen Song „Dunkel“ oder zum Thema passend relativ einfach gestrickte Songzeilen in „Doof“ über Nazis. Das Thema toxische Männlichkeit wird in „Schweigen“ und in „Einschlag“ bearbeitet. Zwei Songs, die man erstmal vor allem textlich verdauen muss. Zu „Einschlag“ hat Bela im Radio Eins-Interview zum Erscheinungstag der Platte gesagt, dass er diesen Song für Tuğçe Albayrak geschrieben hat – eine 22-jährige Frau, die bei der Verteidigung von minderjährigen Mädchen 2014 durch den Schlag eines 18-Jährigen Mannes tragisch ums Leben gekommen ist. Harte Kost, die sich weiter durch das Album zieht. So befasst sich auch Urlaub mit dem Thema toxische Männlichkeit in „Anastasia“. Ein Song, in dem der Protagonist wahllos Tinder-Mädchen durchscrolled um sich am Ende doch wieder auf seine Gummipuppe zu fokussieren oder in „Nachmittag“, wo der Mann einfach von seiner Frau erschossen wird. Der Text suggeriert aus Sicht des Mannes vollkommenes Unverständnis über die Tat seiner ehemaligen Geliebten – lässt aber doch blicken, dass sie für Hass auf ihn anscheinend Gründe hatte. Bezeichnenderweise wird das Lied aber von Bela gesungen, das Textbuch zeigt Farin jedoch als Urheber auf. Nicht überraschend, so erinnert die Grundstimmung doch ungemein an eine Fortschreibung des alten Urlaub-Songs „El Cattivo“ von der allerersten ganzen Platte „Debil“.
 
Auch in „Tristesse“ lässt Farin ausnahmsweise seine dunklere Seite raus: „Bonjour Tristesse, Mon Amour, Mon Ami“. Auch auf diesem Album ist – mittlerweile Tradition – wieder mal ein Song von Rod Gonzales. Seit dem Song „Rod loves You“ vom Album „Planet Punk“ gelten diese in Fankreisen als Kult – wohl auch mehr wegen der Seltenheit als wegen der musikalischen Qualität. Dennoch wird zum Beispiel der „1/2 Lovesong“ auf jedem Ärzte-Konzert frenetisch gefeiert. Auch auf „Dunkel“ wird die Liebeslied-Geschichte fortgeschriebenen. Und so erinnert doch „Schrei“ im Arrangement und auch vom Gesang her stark an die Toten Hosen, die sogar mit „Liebeslied“ einen gleich so benannten Song haben. Früher wäre es im Übrigen eine Todsünde gewesen, die Band aus Düsseldorf in einem Text über Die Ärzte aus Berlin (AUS BERLIN!) überhaupt zu nennen. Mittlerweile hat man sich ausgesöhnt. So tritt der Drummer der Hosen beispielsweise im Video zur Single „Noise“ auf, wie bereits Rod vorher im Hosen-Video zu „Wannsee“. Vielleicht half dabei auch die gemeinsame Leidensgeschichte mit Songs wie „Tage wie dieser“ (Hosen) und „Männer sind Schweine“ (Ärzte). Beide wurden schließlich von vielen Menschen abgefeiert, die weder die Ärzte noch die Hosen je verstanden haben. Um das „Kerngeschäft“ der Ärzte richtig tiefgehend zu verstehen, braucht man schließlich ein bisschen musikbiographisches Verständnis und – das gebe ich gern zu – auch eine gewisse popkulturelle Arroganz.
 
Musik ist älter als Kapitalismus – BÄck im Kerngeschäft
 
Zu Beginn des Albums beschreiben die Ärzte ihre Musik selbst als KFM. Um die Abkürzung zu verstehen, hört Ihr vielleicht mal besser rein. Ist – wie vieles bei den Ärzten früher – nicht wirklich jugendfrei, aber heutzutage auch nicht mehr indiziert. Da ist man jetzt weiter. „Ist das noch Punkrock?“ hieß einer der wenigen Songs auf „Auch“, die man sich gewissenlos anhören konnte. Mit „Dunkel“ lässt sich die Frage wohl mit „Ja!“ (zitiert nach einem indizierten Song über sexuelle Verbundenheit familiär verbundener Menschen) beantworten. Insbesondere der Song „Kerngeschäft“ mit einem – auf Ärzte-Album sehr seltenen – Gastauftritt der Rapperin Ebow. „Kerngeschäft“ ist klassischer Rock, wohl sogar eher direkt Punkrock. Die Message geht ins Mark und ist, einfach, klar und präzise: „Musik ist älter als Kapitalismus“ - das hat eine Plattenverkäuferin aus Hamburg zu Bela beim Besuch gesagt, als er fragte, was die Corona-Krise und das Musikstreaming denn jetzt mit Plattenläden machen würden – so gab er es im bereits angeführten Radio Eins-Feature an. Und wenn es Punk ist, muss es politisch sein.
 
…und ein sozialkritisches Schlagzeugsolo später
 
Womit wir wieder beim eingangs angeführten Schunder-Song wären. Dieser hat mit dem einprägsamen „Immer mitten in die Fresse rein…“-Refrain damals bei mir höchste Emotionen ausgelöst. Auch auf „Dunkel“ geht es „immer mitten in die Fresse rein“, auch wenn nur verbal. Das Album ist am 24. September bewusst vor der Bundestagswahl erschienen. Mit „Anti“, „Doof“ und vor allem „Our Bass Player Hates This Song“ werden sehr deutliche Statements gegen Nazis und für Demokratie gesetzt. Mir persönlich ist das manchmal wirklich zu direkt und „in die Fresse“. Ich weiß nicht, ob das was hilft. Die Ärzte waren trotz aller Blödeleien immer eine politische Band, aber ob mit Songzeilen wie „Doof bleibt doof, da helfen keine Pillen – nicht beim allerbesten Willen“ irgendein Nazi überzeugt wird, nicht mehr Nazi zu sein, sei dahingestellt. Gut, dass ist aber wahrscheinlich bei „Schrei nach Liebe“ auch nicht anders. Die Fans der Ärzte wissen eh, wo sie stehen. Aber sei´s drum. Das eigene Mindset zu stärken, ist ja auch wichtig.
 
Alles in allem ist „Dunkel“ ein echt dickes Brett, durch das man sich lange bohren muss bzw. kann. Es bleibt ja jedem freiwillig überlassen, sich durch die 19 Songs zu hören. Zusammen mit „Hell“ wiegt „Dunkel“ im wunderbar gestalteten Schuber ganze 2150 Gramm. Da können das „Blaue“ und das „Rote Album“ der Beatles kilomäßig nicht mithalten, selbst wenn man das „Weiße“ und „Sergeant Pepper´s“ dazu nimmt. Im Werk der Ärzte könnten die beiden Alben das Abschlussstatement einer langjährigen Karriere sein. Eine Tour noch im nächsten Jahr, nochmal bei „Wetten Das“ mit Gottschalk, ein Live-Album und das war´s dann? Aber wer weiß und wer möchte schon der „Besten der Welt“ ihr eigenes „Gute Nacht“ mit „Wir waren die Ärzte“ entgegenrufen? „Zu spät“ ist es für eine der wenigen Bands, die mit „Ein Lied für Dich“ bereits 1998 ein klares Bekenntnis an ihre dankbaren Fans geliefert hatten, wohl noch nicht. Am Ende von „Hell“ und „Dunkel“ bleiben Fragen: Von „Hell“ zu „Dunkel“ und wieder zurück oder „Back in Black“ und „BÄck in Hell“?


Das ganze Album ist bei Youtube hörbar. 
Aber ich sage Euch: Kauft die Platte "Dunkel!" und kauft "Hell". 
2150 Gramm, ohne Werbung!