Vergesst das Jenre! Mattiel und Tool passen in keine Schubladen.
Eine Platte mit Konzertdaten und ein Konzertbericht machen uns zum "Bergfest" große Freude.
Euch ist vielleicht aufgefallen, dass ich das Wort Genre hier oft benutze. Zur besseren Aussprechbarkeit schreibe ich es in der Regel mit J! Aber eigentlich sind Jenres ein relativ überholtes Konzept, um Musik und alles andere in Schubladen einzuordnen. Oftmals passt das gar nicht mehr und es gibt auch gar nicht mehr die Begriffe, um alles einzuordnen. Außer man erfindet Neue.
Die beiden hier folgenden Texte von Kathy Reiff und Dennis Bornholdt zeigen das wie in einem Brennglas. Deswegen versuche ich auch gar nicht, über ein mögliches Jenre von Mattiel und Tool zu schreiben. Lest die Zeilen, hört die Musik, geht auf die Konzert und geht zu Architektur tanzen. Also schreibt darüber und schickt es mir!
Vielleicht aber einen kurzen Bauchsatz zu den beiden Texten: Wer einen Song über Jeff Goldblum macht, ist verdammt nochmal zu respektieren. Welcome to the Jurassic Park! Und bei Tool wage ich mich zu erinnern, dass die immer in diversen Alternativ-Clubs wie dem Wintergarten im Jolly Joker (Braunschweig) oder im Farmer's (Uetze) liefen. Habe ich jedenfalls von Leuten gehört, die da regelmäßig zu später oder früher Stunde früher waren. Ist ja immer auch eine Frage der Perspektive:)
Have Fun und Danke an Kathy und Dennis!
Neues Album von Mattiel erschienen!
Für die elf Songs des dritten Mattiel-Albums (Release in Deutschland: April 2022) haben sich Jonah Swilley (Produzent/Multi-Instrumentalist) und Atina Mattiel Brown (Sängerin/Texterin) für eine Woche in eine kleine Waldhütte inmitten ruhiger Natur im Norden Georgias begeben.
Herausgekommen ist das Album “Georgia Gothic”, das Garagerock-, Dreampop-, Americana- und sogar Hip Hop-Einflüsse auf einer Platte vereint.
Es klingt wie eine Hommage an die vielen unterschiedlichen Musikstile, die man im US-amerikanischen Bundesstaat Georgia findet und in dem auch Brown & Swilley verwurzelt und aufgewachsen sind.
Produziert wurde das Album von Swilley selbst, den letzten Schliff bekam die Platte diesmal von Grammy-Preisträger John Congleton (u.a. Erykah Baduh, Regina Spektor, The Killers etc.).
Das Album-Cover und der Titel sind eine Anspielung auf das Gemälde “American Gothic” (1930) von Grant Wood, das als Symbol für den amerikanischen Pioniergeist schon häufig in der US-amerikanischen Popkultur re-inszeniert wurde und noch immer im Art Institute in Chicago ausgestellt ist.
Die sanften Harmonien des Indie-Rock Openers „Jeff Goldblum” sind aus einer Schwärmerei Mattiels für den Schauspieler und Musiker Goldblum entstanden (Anmerkung des Redakteurs: Erwähnte ich, wie cool das bitte ist?!!). Beim zweiten Song „On the run“ beeindruckt Mattiel mit ihrer kraftvollen, unverwechselbaren Stimme und Swilleys Gitarre mit country-esquen Klängen.
Das Stück „Subterranean Shut-In Blues“, inspiriert von Bob Dylans “Subterranean Homesick Blues”, entstand während des ersten Corona-Lockdowns und beschreibt mit Zeilen wie “Don‘t touch ‘cause you’re making me nervous” ziemlich treffend den pandemischen Zeitgeist und die damit verbundenen Ängste und Unsicherheiten der Menschen.
Der Song “Lighthouse” klingt da schon wesentlich positiver und handelt davon, dass es immer jemanden gibt, der einem in schweren Zeiten beiseite steht:
“І аm thе lіghthоuѕе
І'll lеаd уоu аlоng
Whеn аll thе fruіt іѕ ѕоur”
Das letzte Stück der Platte, “How it ends” bildet mit Funk-Akkorden und markantem Sprechgesang den perfekten Albumabschluss.
Fazit und ein sozialkritisches Schlagzeugsolo später:
Die verschiedenen musikalischen Einflüsse, die kraftvolle Stimme von Mattiel und eingängige Melodien machen „Georgia Gothic“ zu einem sehr vielseitigen Album.
Ein wenig Melancholie, ein bisschen Pop, eine Prise Soul, viel Rock und am Ende eine große Portion Hoffnung, dass sich immer alles irgendwie zum Guten wendet.
Swilleys lässige Gitarre und Browns außergewöhnliche Stimme klingen nach einer wahren kreativen Entität; als wären die beiden während der verschiedenen Lockdowns und in Zeiten von Social Distancing als Duo noch weiter zusammengewachsen.
Mattiel live:
21.05.22 Lido, Berlin
23.05.22 Nachtspeicher, Hamburg
Kathrin Reiff
Mattiel
Tool am 28.04.2022 in der Barclays Arena Hamburg.
Es ist mir ein Bedürfnis, das hier zu veröffentlichen, auch wenn Facebooks Algorithmen und das „Leben“ hier fast verschwunden zu sein scheint. Hier etwas echtes ohne Werbung, ohne den Wunsch mich darzustellen. Ich möchte euch von einem ganz besonderen Abend erzählen.
Das Tool Konzert gestern war einfach nur unreal. Ich versuche mal zu beschreiben was das für mich war, ich war nämlich nicht sehr anwesend für meine Bezugsgruppe, weil es mich eingesogen hatte.
Während der ersten beiden Songs saßen alle bräsig auf den Stühlen, der Sound war miserabel abgemischt und das sehr geil konzipierte Bühnenbild war durch einen halbtransparenten Schleier verhangen. Nach dem zweiten Song hat Maynard James Keenan die Leute gebeten aufzustehen. Mehrere tausend Menschen waren verwirrt: „Sollte ich aufstehen? Wir sollen doch sitzenbleiben wegen Corona?“ Zögerlich sind wir dann aufgestanden, sind alle aufgestanden - und die Band hat erst dann weitergemacht.
In dem Moment wurde der Schleier vor der Bühne fallen gelassen und wie auf Knopfdruck wurde das Konzert direkt intensiver. PLUS der Sound war auf einmal sooo geil. Dann kam "Pneuma" (googelt bitte einmal die Bedeutung des Wortes und erlebt einen WTF-Moment) und hat eine Stimmung von Transzendenz und Aufbruch vermittelt. Die Lightshow wurde durch Laser und Raumeffekte wie Nebel und Konfetti erweitert und hat so auch visuell die Nähe zwischen Band und Publikum hergestellt, hat aus auflagengeplagten subdepressiven Besucher*Innen eine ekstatisch tanzende Meute werden lassen. "Right in two" hat als nächster Song den spirituellen Charakter der Darbietung (das war weit mehr als nur ein „Konzert“, bei dem eine Band ihre Songs trällert) ausgebaut. Begleitet von einem gigantischen stilisierten Affenschädel im Hintergrund, der “Right in two” zerbrach und final einen Totenschädel offenbarte, während sich analog dazu das Arrangement des Songs sukzessive seiner Klimax genähert hat. Es ist anzumerken dass die Präsenz eines Frontmenschen in anderen Konzerten zu sehr den Fokus des Betrachters auf eben jenen richtet. Maynard ist aber kein Frontmann, sondern ein Sänger. Klug gesetzte Koloraturen, ein überirdisches Timbre und eine maschinengleiche Präzision haben einmal mehr bestätigt, dass er eins von vier perfekt beherrschten Instrumenten in der Band ist. Eines von vier Tools.
Herausragend war die Performance von Drummer Danny Carey, der zeitweise den Eindruck vermittelt hat, er allein könne bereits eine Band sein. Während er mit der rechten Hand komplex variierende Patterns auf Merimbas spielt, hält die linke Hand einen konstanten 6/8-Beat. Dieser Mann ist ohne zu untertreiben ein Genie. Getoppt hat er das nur noch, als er in einem Solopart live Synthesizerloops programmierte und diese dann mit einem epochalen Solo begleitete.
Zu Justin Chancellor am Bass kann man nur sagen, dass es niemand so geil beherrscht, durchgehend cool auszusehen bei allem was er tut (Anmerkung des Redakteurs: Das ist eine ganz klassische Eigenschaft von Bassisten!). Experimentelle Spielarten und großartig verzerrte, unnachahmliche Presets und auch keine Scheu, das Zepter der Melodieführung in die Hand zu nehmen und die Gitarre in die Nische der rhythmischen Begleitung zu verweisen.
Adam an der Gitarre war hochpräzise, gestern weniger präsent (ich saß aber auch auf der rechten Seite, er stand auf der linken) aber doch eines vordergründig: genial. Wisst ihr wann eine Band oder ein Musik schaffender Mensch es meiner Meinung nach geschafft hat? Wenn du einen oder zwei Takte aus einem Song hörst und weißt: „Das ist Tool. Niemand anders spielt so.“ Das gilt übrigens für viele, zB Santana, Meshuggah oder Queen. Wenn du es als Band geschafft hast eine Stimmung, eine Geschichte, ein Konzept zu vertonen und es zu vermitteln. Wenn du - und jetzt sind wir wieder beim Konzert von gestern - in die pandemiegeschundenen Seelen vordringst, sie berührst und heilst.
Wenn du es immer wieder schaffst, deine Fans und Bewunderer*Innen zu überraschen. Das ist auch gestern nicht ausgeblieben. Bei Tool Konzerten sind Fotos und Videos auf Wunsch der Band untersagt. Kurz vor der Zugabe gab es aber von Keenan die Ansage, dass Handyaufnahmen für den letzten Song erlaubt sind. Der letzte Song dauerte 18 Minuten und mein iPhone hat nach 11:46 Minuten Aufnahme überhitzt. Keine Ahnung ob das normal ist, aber es war für mich Teil der überirdischen Erfahrung.
Du kannst Konzertatmosphäre nicht konservieren. Du solltest Konzertatmosphäre nicht konservieren. Geh einfach mehr auf Konzerte.
Ich habe noch so viel mehr Dinge, die ich aufschreiben möchte, weil das ganze Programm nicht nur Songs nacheinander waren, sondern ein musikalisches und künstlerisches Gesamtkonzept, das gemeinsam mit der wirklich außergewöhnlichen Lightshow (in Form von Fraktalen, dynamischen Rorschachmustern und monolithischen Symbolen) und der Atmosphäre in einem synästhetischen Feuerwerk und mittels einer beinahe esoterischen Traumreise in mir etwas bewirkt hat, das weit mehr war als die Summe seiner Teile und mich als Menschen bereichert, mein Herz und meine Seele berührt und obendrein einen sozialen Heilungsprozess von dieser ganzen Scheiße der letzten Jahre bedeutet. Das war wirklich groß gestern. Das war die Essenz von „live“. Leben.
Danke Tool - für das außergewöhnlichste Konzert meines Lebens - zu einem Zeitpunkt, an dem ich es am meisten brauchte.
Dennis Bornholdt
Werkzeug-Zeit.