Achtung: Queer-Pop-Indie-Punk auch und gerade für Hetero-Boomer!
Schrottgrenze bringen mit ihrem neuen Album „Das Universum ist nicht binär“ Fotos, Platten, Narben und das „Warten auf Hoffnung“ in unseren manchmal grauen Alltag.
„Stell Dir vor, wir wachen auf und alle so: Yeah! Und es wer der allerschönste Morgen, denn das Patriarchat wäre gestorben. Yeah! “
Auf ihrem Album „Super“ aus dem Jahr 1998 erklingt bei dem Song „Skycrapper Ballad“ ein wunderbar gehauchtes „Ja, Klar“, das von einem Freund der Band, der zufällig bei den Aufnahmen dabei war, eingesungen wurde. Ebenjener alte Wegbgleiter war dann natürlich auch 25 Jahre später im Berliner Schokoladen dabei, als Schrottgrenze ihr neues Album „Das Universum ist nicht binär“ vor einem fein auserwählten Publikum zur Release-Party präsentiert haben. Die oben aufgeführte Passage vom ersten gleichnamigen Track des jetzt bei Tapete Records erschienenen Albums hat mit „Yeah!“ auch ein „Ja, klar!“ – diesmal allerdings mächtig und nachhaltig von einem Frauenchor eingeshoutet.
Beides ist konsequent und symptomatisch. Schrottgrenze haben sich über die fast 30-jährige Bandgeschichte eine hartgesottene Fanbase erarbeitet, von denen dann auch einige – wie eben jener langjährige Bandfreund – im „Schokoladen“ dabei waren. Dazu kommen jetzt aber auch ganz viele neue und buntere Leute aus der queeren Szene, die lauthals das „Yeah!“ bei „Das Universum ist nicht binär“ mitgesungen haben, sofern sie das Album einen Tag nach der Veröffentlichung (11. Februar 2023) bei dem Gig schon gehört hatten.
Es ist schwer – und wir haben hier ja auch immer wieder das große leidige Jenre-Thema – Schrottgrenze in eine Schublade zu pressen. Aber wahrscheinlich lässt sich das Ganze jetzt nach drei Alben in dieser Richtung, was die Band jetzt als Trilogie bezeichnet, irgendwie als Queer-Pop-Indie-Punk bezeichnen.
Darf man denn als waschechter Hetero-Boomer Queer-Pop-Indie-Punk hören? Zwei Filme und ein Song fallen mir als Antwort auf diese Frage ein. Und natürlich Schrottgrenze mit diesen drei Alben („Glitzer auf Beton“, „Alles Zerpflücken“ und „Das Universum…“), die sich nach der Wiedervereinigung 2014 nach einer längeren Band-Pause dann später vollends dem gesellschaftlichen Kampf gegen Geschlechter-Klischees, altbackene Rollenbilder und misogyne Queer-Feindlichkeit gewidmet haben. Bevor wir hier ins Detail gehen, vielleicht erst einmal zu den angedeuteten zwei Filmen und dem Song, der das ganze Werk eigentlich ganz schön zusammenfasst.
Ich bin immer noch emotional hin und weg, wenn ich an eine Szene aus dem Film „Milk“ (2008) mit Sean Penn denke, der die wahre Geschichte der US-Schwulen-Ikone Harvey Milk erzählt. Milk hatte sich als einer der ersten bekennenden Schwulen in den USA um politische Mandate beworben und wurde nach mehreren Anläufen sogar Stadtrat. In der besagten Szene ruft ein verzweifelter junger schwuler Mann bei Milk an und erzählt ihm davon, dass er aufgrund der Ressentiments seiner Familie gegen ihn nicht mehr weiterleben will. Milk bittet ihn darum, dass er sofort abhauen und zu ihm kommen soll. Das geht aber nicht: Der junge Mann sitzt im Rollstuhl.
Auch der zweite Film beruht auf wahren Begebenheiten: „Pride“ (2014) zeigt die Unterstützung schwuler und lesbischer Menschen aus London für den großen Streik der britischen Bergarbeiter-Gewerkschaft gegen die Thatcher-Regierung und ihren sozialpolitischen Kahlschlag. Anfänglich stößt die Gruppe „Lesbians and Gay support the Miners“ auf Skepsis bei den mürrischen Bergarbeiter-Kumpels aus Wales. Nach Ende des Streiks kommen die Bergarbeiter nach London und führen hier die Gay Pride-Parade 1985 an. „Solidarity City“ at its best, um es mit einem Schrottgrenze-Song vom vorangegangenen Album „Alles Zerpflücken“ zu sagen!
Und um die oben aufgeworfene Frage gleich unmissverständlich zu beantworten: Nein, man darf als Hetero-Boomer nicht nur Schrottgrenze hören, man muss es sogar! Denn wenn man das nicht macht, gehen wunderbarste Melodien und eine herrlich bunte Sicht auf die Welt einfach an einem vorbei. Und das wäre wahrlich sehr schade und traurig!
Fotos, Platten, Narben und „Das Warten auf Hoffnung“
Bevor das erste neue Album nach dem Neustart herauskam, brachten Schrottgrenze eine Compilation ihrer früheren Werke raus. Alles begann dabei mit dem Sichten und Posten alter Fotos und mit „Zeitmaschinen“, der einzigen Neuveröffentlichung auf dem Werk mit dem Titel „Fotolabor 1995-2015“. Auch die beiliegende Raritätensammlung „Schnappschüsse 1994-2007“ hat das Fotomotiv schon im Titel. Man hätte es auch mit dem Thees Uhlmann-Song „Die Toten auf dem Rücksitz“ betiteln können, denn erstens haben Schrottgrenze genau wie Grandmaster Thees ihre Ursprünge auch in Niedersachsen und zweitens, könnten die in dem Song dargelegten Leitmotive „Fotos“, „Platten“, „Narben“ und vor allem „Hoffnung“ auch für Schrottgrenze als Überschriften dienen. Das gilt umso für das neue Album „Das Universum ist nicht binär“.
Fotos
Fotos bzw. auch Videos sind wunderbare Mittel, um Gefühle auszudrücken. Und so sind sowohl Plattencover wie vor allem auch die Videos zu den bisher erschienenen vier Singles zu „ Das Universum…“ eine herrliche Darstellung einer bunten Welt, mit Glamour, Schminke, Glitzer und coolen Klamotten, die manchmal im Gegensatz zu den teilweise sehr ernsten Texten steht. „Dysphorie“ beispielsweise beschreibt den Lebensweg eines queeren Menschen, der gegen die Widerstände in Familie und Gesellschaft kämpft. Die Person findet sich in dem per Geburt zugeordneten Geschlecht eben nicht wieder. Sängerin Saskia Lavaux beschreibt hier ihren eigenen Lebensweg: „Und alle kenne mich besser als ich mich.“ Ähnliches gilt für „Emanzipation und Alltag“, wo auch selbstkritisch auf die eigenen „großen fragilen Sprüche“ eines früheren Lebens zurückgeschaut wird. Titeltrack „Das Universum ist nicht binär“ hingegen ist eine vor Kraft strotzende Hymne, die mit Powergitarren eine Vision einer besseren Welt aufzeigt. Gleiches gilt für „Happyland“, das die zweite Kollaboration mit einer Sängerin ist. War es auf „Alles zerpflücken“ noch Sokee, die bei „Traurige Träume“ mit ihrer Rap-Einlage den Schrottgrenze-Sound bereichert, so ist es jetzt Finna. Das Cover bei Spotify zeigt Saskia und Finna entschlossen Schulter an Schulter stehend und auch bei dem Auftritt im "Schokoladen" war Finna so präsent dabei, als wenn sie selbst Teil der Band ist und hat konsequenterweise auch gleich „Traurige Träume“ mit einer eigenen Gesangseinlage bereichert.
Platten
Schrottgrenze haben mittlerweile einen eigenen Back-Katalog zahlreicher Platten. Eine Aufzählung wäre etwas zu mühselig, da beispielsweise das Erstlings-Werk nicht mehr wirklich genannt werden will und auch eine frühere Album-Aufnahme auf einmal „verschwunden“ ist, von der dann aber später weniges auf Demo-Compilations erschien. Dennoch haben Schrottgrenze ihre Wurzeln im klassischen deutschen Punk. Das bestätigt Saskia auch in einem Interview mit dem Deutschlandfunk und macht auch hier deutlich, dass Elemente der Punk-Attitüde noch Teil der Schrottgrenze-DNA sind. Vielleicht lassen sich aber dennoch einige andere Referenzplatten mit den heutigen Schrottgrenze-Songs vergleichen? Da ist zum einen sicher „Disintegration“ von The Cure. Nicht nur der Titel ist passend. Saskia ist großer The Cure-Fan und das hört man vor allem im melancholischen „Immer für dich da“, aber auch an anderen Stellen heraus. Zum anderen ist da sicher auch David Bowie zu nennen. Das gilt teilweise für den Sound, aber vor allem für den Style, den Bowie mit seiner Kunstfigur „Ziggy Stardust“ geradezu zelebriert hat und der ganz klar Einzug in das Konzept für das Video von „Das Universum ist nicht binär“ gefunden hat. Das ist nur konsequent, denn bereits auf „Super“ gab es eine große Verneigung an „Die Kinder vom Bahnhof Zoo“ in dem Song „S.D.G.S.I.L.“. Den wichtigsten Song hatte auch hier David Bowie mit „Heroes“ beigesteuert.
Narben
Narben gibt es viel auf „Das Universum…“. Neben den schon angedeuteten Widerständen im Leben von queeren Menschen in den Singles des Albums wird es vor allem tiefgehend, wenn entsprechende Lebenswege auch mit Namen konkret versehen werden. Wie beim Song „Roman und Ines“, der eine Art Abschluss der eigenen Song-Trilogie in der gesamten Alben-Trilogie ist. Auf „Glitzer auf Beton“ wurde bereits über „Christiane“ gesungen, bei „Alles Zerpflücken“ war es „Morice“ und jetzt eben der Song „Roman und Ines“, der die Geschichte von schwulem und lesbischem Leben in den 80ern der Bundesrepublik anhand zweier Liebesgeschichten erzählt. Auch in den anderen Songs treten immer wieder die Verletzungen zutage, die queer Menschen erleben mussten. Aber – und das ist ein Kunststück – nie bitterböse und resignierend, sondern mit einer Vision für eine bessere Welt werden die Narben eher als Motivation für den tagtäglichen Kampf verstanden und dargestellt.
Hoffnung
Was wiederum Hoffnung auf ein besseres Morgen macht. So heißt es im Refrain der Bubble-Pop-Hymne „Girlanden“: „Warten, warten auf Hoffnung, […] warten, warten auf Morgen!“. Ein Morgen, in dem eben nicht nur „Männerphantasien“ die Musikindustrie prägen und in der die „Boomer“ nachts keine Tränen mehr über ihre Kinder verlieren müssen, die ein anderes Leben mit viel Buntheit und einer konsequenten Achtung unserer Umwelt wollen, sondern sie dabei vielleicht anfangen zu unterstützen. Eine Welt, in der die "Bürokratie" eben nicht einer der größten Gegner des Menschen ist, sondern in der der Staat die Menschen in ihren unterschiedlichen Lebenswelten konsequent unterstützt.
Hoffnung! Hoffnung auf eine andere Zeit geben Schrottgrenze und haben mit eben jenen Songs „Girlanden“ und „Boomertränen“ auch mal gleich zwei absolute Ohrwurm-Hits rausgehauen, die in dem durchweg wunderbaren Album noch einmal extra herausstechen. "Girlanden" glänzt dabei mit einer Mischung aus Synthie- und Gitarrenwand und der eingängige Bass-Lauf bei "Boomertränen" ist typisch Schrottgrenze-Sound, der an verschiedene Songs auf dem Klassiker "Chateau Schrottgrenze" von 2006 erinnert. Die Rolle von Bassisten in Bands wird ja generell eher unterbelichtet dargestellt. Umso wichtiger sind sie aber für den satten Sound ;).
Und ein sozialkritisches Schlagzeugsolo später…
Ihr habt es vielleicht herausgehört: Ich bin hier etwas befangen! Aber das liegt weder daran, dass ich Angst davor habe, als Kritiker vom Schrottgrenze-Tourmanager nach einer Schmähkritik mit Hundekot beschmiert zu werden noch daran, dass ich einen Teil der Band schon länger kenne. Sondern vielmehr daran, dass ich seit mittlerweile fast drei Jahrzehnten vom Produkt mehr als überzeugt bin! Der Weg vom Punk – sogar mit einem Beitrag auf dem legendären „Chaostage 1995-Sampler“ – hin zu dem jetzigen Zeitpunkt, wo sich zwei grüne queere Bundestagsabgeordnete noch Stunden nach dem Konzert im „Schokoladen“ lange intensiv mit Saskia Lavaux unterhalten, war weit.
Timo, der Gitarrist der Band, hat mir mal im Scherz gesagt, ich sei ein „Boomer“. Wir konnten das im Nachgang im „Schokoladen“ endlich aufklären. Er bezog sich darauf, dass ich noch hauptsächlich dieses Facebook nutze und nicht wegen meines VW-Diesel 😉. Aber es ist mir auch irgendwie egal.
Ob Boomer, hetero, queer oder was oder wer auch immer: Hört endlich konsequent Schrottgrenze und die Welt wird dabei etwas schöner!
„Good Vibes only, in den Stories!“ (Happyland)
Gewinnspiel:
Welcher Schrottgrenze-Song schaffte es 1996 auf den Sampler „Chaostage 1995: Grüße aus Hannover“?
Vielleicht wisst Ihr es so. Sonst nutzt die einschlägigen Portale oder hört Euch durch den ganzen Sampler ohne Titelangabe hier an 😉. Viel Erfolg!
Konzertbericht Berlin 2021:
Die Liebe, die Freiheit und das Leben am Einheitswochenende
Schrottgrenze spielen in Marzahn-Hellersdorf den Soundtrack für ein Land, wie es aussehen könnte.
In dem Ärzte-Song „Mit dem Schwert nach Polen, warum René?“ vom im Lichte der Nazi-Krawalle Anfang entstandenen Album „Die Bestie in Menschengestalt“ (zum aktuellen Ärzte Album Dunkel klickt mal hier drauf) heißt es über Berlin-Marzahn: „Wohnst im Marzahn, das ist ziemlich hart.“ Wenn man den langen trostlosen und tristen Weg zum Festivalgelände des diesjährigen „Roter Baum Festivals“ fährt, weiß man ungefähr, was sie damit meinten. Platte an Platte, leicht modifizierte (als modernisiert bezeichnete) Platte an Tankstelle, Tankstelle an ans Umfeld angepasste Einkaufscentren, Wohnblöcke direkt an Durchfahrtsstraßen und Tramlinien. Gut, letzteres ist praktisch – man kommt schnell weg! Wer mag da schon wohnen? Eine ganze Menge toller Menschen, sogar mit Familien, mit Kindern, mit politisch toller und offener Einstellung, bunt, weltoffenen, für Berliner Verhältnisse sogar freundlich, wenn man sich das Publikum beim Schrottgrenze-Auftritt am Abend dort so anguckt. Und die Annahme ist hierbei sogar sicherlich nicht gewagt, dass ein Großteil der auf dem Festivalgelände verteilten ca. 500 Menschen auch von da wegkommt, wie man in Berlin und Brandenburg sagt. Der Berliner (hier wird auf das Gendern verzichtet) an sich fährt schließlich nicht abends aus seinem Bezirk weg. Schon gar nicht für eine Band wie Schrottgrenze. Diese Einstellung ist jedoch garantiert ein Fehler, wenn man den Abend Revue passieren lässt!
Marzahn-Hellersdorf hat es der Band irgendwie angetan. So spielten sie schon 2019 auf dem „Schöner leben ohne Nazis“-Festival auf einem recht trostlosen anderen Platz des Bezirks. Aber die Vermutung liegt vielmehr auf der Hand, dass die Band damit die zahlreichen Initiativen unterstützen will, die den Bezirk bunter machen wollen. Sowohl beim „Roter Baum“- wie auch beim „Schöner Leben ohne Nazis“-Festival nahmen die Organisatoren keinen Eintritt. Die Festivals finanzieren sich ausschließlich über den Verkauf von Speisen und Getränken und Spenden und meine Hoffnung ist, dass Bund, Senat oder Bezirk hier auch den ein oder anderen Euro hinzugegeben haben. Das wäre jedenfalls eine sinnvolle Beteiligung am Gemeinwesen und ist bei all dem, was man in dieser Stadt sonst so verpulvert, sinnvoll investiert. Für eine fette Gage der Band wird es wohl eher nicht reichen. Schrottgrenze sind Idealist*Innen ihrer Sache. Kurz gefasst ist das Motto der Band: „Lieb doch einfach, wen Du willst“, ein Song für die „Sterne“ in unserem Leben, die dieses manchmal etwas triste bunter machen.
Ich bin kein Experte in queeren Themen, daher überlasse ich die Aufzählung der zahlreichen bunten Menschen lieber der Band selbst. Saskia Lavaux, der queere Trans-Mensch und Frontrunner der Band zählte sie immer wieder an dem Abend auf und ein Großteil der neueren Songs der Band richtet sich direkt an dieses Publikum. Für die Liebe, die Freiheit und das Leben – das könnte als Motto über diesem Abend stehen.
Richtig viel Mühe haben sich die Veranstalter*Innen dieses Festivals gegeben. Der ganze Tag wurde durchorganisiert. Mit vielen Ständen für Essen und Trinken, zum Großteil vegan oder mindestens vegetarisch – schließlich waren auch Friday for Future da – mit zahlreichen Angeboten für Familien mit Kindern, mit einer Rampe zu einem eigenen Podest für Rollstuhlfahrer*Innen, mit auch zum späteren Abend noch sauberen Dixi-Toiletten (!!!) und einem durchdachten Corona-Konzept. 3G war angesagt, man musste sich vorher anmelden, es gab eine Corona-Teststation vor Ort, bei der auf den letzten Metern vor dem Ende der kostenlosen Corona-Bürgertests unserem Jenser nochmal Geld aus der Tasche gezogen wurde und sowohl die Anmeldungen wie auch die Impf-, Test- oder Genesenen-Atteste wurden ordentlich begutachtet. So kann es also laufen, das Festival-Leben in Corona-Zeiten. 3G, draußen und alle achten ein bisschen aufeinander. Das gibt doch Hoffnung!
Hoffnung machten dann auch Schrottgrenze mit ihren Songs, die ein klares Statement für ein anderes Deutschland abgeben. Eines, wo Liebe, Freiheit, Toleranz, Solidarität und Menschlichkeit die Leitlinien sind. „Life is Queer“ und der „Januar Boy“ sind wunderbare Statements dazu. Gleich zu Beginn spielen sie auch „Am gleichen Meer“, in dem die Band Kindheitserinnerungen ihrer Nordsee-Urlaube verarbeitet: „Und in den Kugeln ist Hass drin, früher wie heute. Und die Kurtaxe von Morgen zahlen mit Sicherheit die gleichen Leute“. Wer wie wir ein paar Urlaubstage an der Ostsee jetzt gebucht hat, wird sie auch wieder zahlen müssen: Die berühmte Kurtaxe – eine Gebühr dafür, dass man den Strand benutzen darf! Natürlich zusätzlich zu den Hotelkosten, wo leben wir denn auch? Ja, das ist halt Deutschland im Jahr 2021. Nach ein paar weiteren Songs und „Fotolabor“, ebenso wie „Am gleichen Meer“ von „Chateau Schrottgrenze“, bemerkt Saskia, dass ein wohl zwischendurch vor der Bühne eingeschlafener Festivalteilnehmer aufgewacht ist. Jetzt geht es also richtig los.
Schrottgrenze spielen an dem Abend ein buntes Set ihrer mitlerweile ordentlich gewachsenen Playlist-Möglichkeiten. Im Fokus stehen die Songs der letzten beiden Alben „Glitzer auf Beton“ und „Alles Zerpflücken“, in denen sie vor allem die vorher angesprochenen queeren Themen mit wunderbar eingängigen Gitarrenriffs und melodischem Gesang „durchdiskutieren“. Die beiden den Alben den Titel gebenden Songs sind wie mittlerweile auf allen Schrottgrenze-Konzerten immer echte Highlights. Ein ganz besonderer Song von „Alles zerpflücken“ ist auch „Traurige Träume“, ein Song über bzw. ganz klar gegen Nazis. Ein wichtiges Statement in Marzahn-Hellersdorf und eine Kollaboration mit der Rapperin Sookee, die aus persönlichen Gründen nicht mehr als Sookee auftritt und als Sukini nur noch Kindermusik macht. Auf ihrem letzten Kindermusikalbum mit dem wunderbaren Titel „Schmetterlingskacke“ spielt auch Saskia Lavaux eine Rolle. Beide performen eine tolle Version des Antilopengang-Hits Pizza mit „Glitzer“. Sookee hat zu ihrem Abschied aus der Rapszene mehrfach deutlich Stellung bezogen, sogar in der FAZ. In jedem Fall: Lesen!
Schrottgrenze haben mit ihrem gemeinsamen Song mit Sookee die Türen aufgestoßen. Lange vor den Ärzten, die auf ihrem neuen Album Dunkel mit „Kerngeschäft“ zusammen mit der Rapperin Ebow einen Mix aus Punk und feministischem Rap liefern, taten dies Schrottgrenze mit „Traurige Träume“. Vielleicht ist das die Zukunft, die auch der Jugend gefällt? Die Jenre-Grenzen brechen auf, die Bands vermischen feministischen Rap mit Punk und die Rapper*Innen machen Punk-Alben wie die Antilopengang. Deichkind, Die Toten Crackhuren im Kofferraum und K.I.Z. lassen sich sowieso nicht mehr irgendwo reinpressen – schon gar nicht musikalisch. Ähnlich ist es mit Schrottgrenze: So ist die jüngste Veröffentlichung eine Indie-Version von "Wieder sehen" der wütenden Berliner Band Shirley Holmes . Was ist das also? Punk ist es nicht mehr, aber die neue Schublade hat noch keinen Namen. Braucht vielleicht auch keinen.
Es eint alle genannten Bands die Kritik an gesellschaftlichen Umständen und ernste Themen. So verwundert es nicht, dass Schrottgrenze auch auf einem Tribut-Album für Ton Steine Scherben mit ihrer Version von "Menschenfresser“ vertreten sind. Eine düstere Atmosphäre lieferten sie dann auch an dem Abend im Marzahn mit dem „Lied vom Schnee“ vom 2004er Album und dem bezeichnenden Titel „Das Ende unserer Zeit“. Mit „Mann am Punkt“ – wieder von „Chateau Schrottgrenze“ – nahm dann die Band auch sogar noch das Thema Mieten auf. Passend zum gerade abgehaltenen Volksentscheid „Deutsche Wohnen enteignen“. Man muss sich nicht direkt wie Saskia zu diesem Entscheid bekennen, um zu merken, dass etwas bei Mieten einfach nicht stimmt in Deutschland. Unterzeichner*Innen, die in meinem Freundes- und Kolleg*Inenkreis nicht gerade dem linksradikalen Spektrum entstammen, betonen, dass die Politik einfach dieses Signal braucht. Hoffentlich passiert hier bald was!
Mit dem alten Klassiker „Lila will heim“ verließen wir passend das Festivalgelände. Da die Kinder nach Hause mussten bzw. wir wollten, dass sie jetzt aus Gründen nach Hause müssen sollen 😉, haben wir die Zugaben nicht gehört. Ich tippe auf „Reibung, Baby!“ und „Belladonna“. Auch alte Klassiker. Punkrock. Alte Schule. Für solche Momente von alten Fans mit Kindern wäre es nach der nächsten Clubtour durchaus mal angesagt, eine Liveplatte einzuspielen. Normalerweise sind Live-Alben immer ambivalent zu sehen, aber bei Schrottgrenze wird es sicherlich „Reibung“ geben. Wer bis dahin nicht warten mag, kann sich gerne im umfangreichen Back-Katalog der Band bedienen. Vor kurzem erschien beispielsweise eine Bild-Vinyl Version von „Chateau Schrottgrenze“ samt dazu gehörigem erklärenden Podcast. Reinhören und Rocken! Dann ist auch der Marzahn nicht mehr ganz so hart.
PS: Im Nachgang hat Saskia berichtet, dass es keine Zugabe mehr gab. Wahrscheinlich wegen der klaren Zeitabläufe. Das Festival fand mitten im Wohngebiet statt. Die beiden hier genannten Songs wären aber sehr gute Zugaben geworden! Noch mehr Argumente also zum Besuch der nächsten Tour und für ein Live-Album😎.
Zum Tag der Deutschen Einheit lieferten die mit Schrottgrenze verbundenen Wohlstandkinder bereits vor vielen Jahren den Soundtrack. Hört selbst rein, ob es für Euch passend ist.