Die großen Indie-Dinos sind noch nicht ausgestorben – Tocotronic werden mit „Nie wieder Krieg“ wieder die Feuilletons füllen und auf Platz 1 stürmen!

 

Im Oktober letzten Jahres wollte ich einen Artikel zu einem Soundtrack für die nächste Bundesregierung schreiben. Die Honeymoon-Bandfotos von Grünen und der FDP waren einfach wie gemacht für ein Plattencover. Ich hatte auch schon eine Band hierzu im Kopf: Tocotronic! Irgendwie hätten sich hinter der Band mit „Digital ist besser“ (FDP), „Michael Ende, Du hast mein Leben zerstört“ (Grüne) und „Jetzt geht wieder alles von vorne los“ (SPD) alle drei Parteien versammeln können. Wie man sich eigentlich bei den meisten Menschen mit zumindest etwas Geschmack immer irgendwie auf Tocotronic einigen kann. Es passte auch irgendwie immer noch. Olaf Scholz hätte die plakativen Slogans für seine Reden verwendet, Annalena Baerbock und vor allem Robert Habeck hätten die tiefen Hintergründe und Backlines der Texte erklärt. Und Christian Lindner hätte immer nachgefragt, „was das denn jetzt ganz konkret für den freien Bürger bedeutet? So ist aber leider das neue Album „Nie wieder Krieg“ erst am letzten Freitag erschienenen, der Anfangszauber der Koalition ist verschwunden und Corona immer noch da.  

 

Dennoch, so viel ist klar, wird „Nie wieder Krieg“ in allen Feuilletons der einschlägigen Zeitungen und Portale rauf und runter diskutiert werden. Und natürlich wird das Album nächste Woche auf Platz 1 der deutschen Charts stehen! So war es in den letzten Jahren immer. Tocotronic sind die nicht Tod zu kriegenden Indie-Dinos der deutschen Pop-Intelligenz. Und so stand am Veröffentlichungstag der neuen Platte natürlich gut platziert am Eingangsbereich des Kulturkaufhauses Dussmann in der Berliner Friedrichstraße ein Verkaufstisch zu „Nie wieder Krieg“. So konnte man sich beim Einkauf der letzten zwei Volker Kutscher-Bände, die man noch nicht hatte („Entschuldigung, ich musste vorher noch einmal „Dune“ im Original lesen und die Verfilmung mit „Babylon Berlin“ finde ich auch nicht so gut“, sagt fiktiv dieser klassische Berliner Intellektuelle), den Band „Renegades“ von Barack Obama und Bruce Springsteen und einem David Bowie-T-Shirt (gleich am Kassenbereich) noch recht einfach „Nie wieder Krieg“ mitnehmen und fühlte sich gleich wieder etwas erhaben. Keine Sorge, ich habe das alles nicht gemacht. Der richtig coole Intellektuelle steht nämlich über den Dingen! Ganz nach dem Motto „Mit den Tocos bin ich jetzt endgültig durch“. So habe ich mir nur die neue Single „Ich hasse es hier“ gekauft und höre vielleicht in das neue Album bei Spotify mal rein. Und dann wünsche ich es mir zum nächsten Geburtstag im November. Da passt es auch wahrscheinlich noch etwas besser hin und wegen der Vollständigkeit und so.

 

Die Wahrheit ist aber tatsächlich schon etwas anders, denn an eine echte Plattenkritik traue ich mich nicht ran und Tocotronic spielen in meiner persönlichen musikalischen Historie und Sozialisation eine ganz gewichtige Rolle! Ich mache mich darüber zwar auch gerne lustig, aber diese Texte auch nur ansatzweise richtig zu interpretieren und alle intellektuellen und popkulturellen Hintergründe und Referenzen auch nur ansatzweise zu verstehen, das überfordert mich. Das geht mir mindestens schon seit den letzten fünf Alben so. Man kann mit Fug und Recht daher sagen, dass Tocotronic im positiven Sinne gemeint eine anstrengende Band ist. Daher folgt auch keine richtige Rezension, sondern eher meine persönliche Top 5 zu der Band. In das Album müsst Ihr daher selbst reinhören und Euch ein Bild machen. Nehmt Euch Zeit und Geisteskapazitäten dafür.

 

„Digital ist besser“, „Nach der Verlorenen Zeit“ und „Wir kommen, um uns zu beschweren“

Die drei ersten Alben von Tocotronic sind eine Trilogie sondergleichen. Innerhalb kürzester Zeit haben sie damit Blumfeld vom Indie-Thron gestoßen und die Herzen der kritischen Jugend erreicht. Tatsächlich kann man alle einfach durchhören und hat dann trotzdem noch die schwere Entscheidung, was denn jetzt eigentlich die Hits waren. Zu zahlreichen Lebenssituation fällt einem – ähnlich wie bei den Ärzten – oftmals ein Song von diesen drei Klassikern ein. Tatsächlich hymnenhaft und die Titel sind so gestrickt, dass man sie eigentlich immer gleich auf T-Shirt drucken kann. „Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk!“ ist die selbstironische Hommage an den Nirvana-Kurt-Cobain-Kult (glaube ich jedenfalls), „Michale Ende, Du hast mein Leben zerstört“ versteht man wahrscheinlich wirklich erst, wenn man „Momo“ jetzt wieder lesen würde und „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ ist sowieso eigentlich nur für Aufkleber und T-Shirts gemacht. Und damals waren sie auch noch viel rauer und roh im besten Sinne. „Es ist einfach Rockmusik“, wie Bassist Jan Müller im gleichnamigen Song auf „Nach der verlorenen Zeit“ erklärt. 

 

„Nicolette Krebitz wartet“, „French Disko“ und „Die Sache mit der Team Dresch Platte“ 

Besonders sind auch die Kollabos, die Tocotronic schon gemacht haben, bevor es so hieß und In war. So ist bereits in den 90ern „Nicolette Krebitz wartet“ mit Tocotronic-Sound und Fettes Brot-Gesang auf einem Fettes-Brot-Album erschienen. Bemerkenswert auch der Song „French Disko“ mit Tocos-Sänger Dirk von Lotzow zusammen mit dem Beatsteaks zum gleichnamigen Film. Keine wirkliche Kollaboration, aber im Kopf hat sich diese bei mir manifestiert, ist der Song „Die Sache mit der Team Dresch Platte“. Diesen Song habe ich erst in den letzten Jahren so wirklich verstanden, als ich mich mit „Queer Punk“ wie dem neuen Sound von Schrottgrenze befasst habe. Auch wenn vielleicht nicht total bewusst, sind Tocotronic auch hier Vorreiter in Deutschland gewesen. „Und ich weiß sie singen nicht für mich. Ich weiß, und trotzdem glaube ich. Dass ich sie verstehen kann,
 obwohl ich bin ein Mann. Und trotzdem finde ich sie super.“ Damit ist dazu auch schon in den 90ern fast alles gesagt. Jetzt müssen nur noch die Taten folgen. Stichwort: Änderung bzw. Abschaffung Transsexuellen-Gesetz. Oder würdet Ihr gerne, falls Ihr irgendwann Euer Geschlecht ändern wollt, Fragen beantworten, wie „Woran denken Sie eigentlich beim Masturbieren?“. Das ist nämlich immer noch die Regel. 2022 in Deutschland.    

 

Bücher und Popkultur 

Tocotronic waren erst eine Student:Innen- und dann eine Intellektuellenband (das ist nicht immer gleichzusetzen!). So ist natürlich die Verbindung zu Büchern und Popkultur immer gegeben. Michael Ende wurde ja bereits mehrfach erwähnt. Mittlerweile hat sich aber selbst ein Kosmos von Büchern der Band selbst oder über sie etabliert, in dem man immer mal ein passendes Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenk finden kann. So hat Thees Uhlmann in frühen Jahren als Roadie bei Tocotronic gearbeitet und das in einem Buch verarbeitet. Dirk von Lotzow selbst hat im autobiographischen „Aus dem Dachsbau“ einen Einblick in sein Seelenleben gewährt, „Die Tocotronic-Chroniken“ beschreiben im Roten Einband die Bandgeschichte und es gibt mit einer Graphik-Novelle mit dem Titel „Sie wollen uns erzählen“ sogar eine graphisch-künstlerische Erklärung der Songs in Bildern. Letztere hatte ich in meinem Lieblings-Buchladen, der „Buchdisko“ in der Berliner Florastraße, einmal in den Händen. Und auch wenn dieses Buch an keinen anderen Ort der Welt besser hinpasst, als dort, so „wollte ich es doch nicht haben.“ Irgendwie bin ich jetzt darüber erhaben, mir derartige Bücher ins Regal zu stellen, um die intellektuelle Potenz ausführlich aufzuzeigen. Sowas gibt sicher auch schöne Gespräche, die man beginnt mit „Wusstest Du, dass es eine Graphik-Novelle zu Tocotronic-Songs gibt?“. Und ganz ehrlich, Nein! Bitte nicht. Ich höre den Song „Let there be Rock“. Das ist auch ein gleichnamiger AC/DC-Song bzw. auch der Titel eines Live-Albums und damit ist dazu alles gesagt. Tocotronic halten trotzdem weiter die intellektuelle Fahne hoch. So ist eine der Singles zum neuen Album mit „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“ natürlich eine Reminiszenz an den Klassiker von Ödön von Horváth. Wisst Ihr aber sicher und kennt bestimmt die tiefe Message! 

 

„Ich hasse es hier“ in Germendorf

So wie die Graphik-Novelle in die „Buchdisko“ passt, so passt der Drehort der neuesten Single „Ich hasse es hier“ so unfassbar gut in diesen Tier-Freizeit- und Saurierpark Germendorf, bei Oranienburg, bei Berlin. Nicht so sehr vom Titel, aber vom Setting her für Tocotronic irgendwie schon. Und ein wirklich ernst gemeinter Typ: Wenn Ihr Kids habt, fahrt mal hin. Das ist wirklich eine wunderbare Einrichtung, so ganz fernab vom Berliner Glamour, aber mit Charme und Liebe gemacht und auch günstig. Super-Pommes und sogar Bier gibt es da. Auf der Facebook-Seite des Parks wurde das Video gepostet. Ein Kommentator schrieb: „Toll, dass der Park drin vorkommt. Aber diese Musik mag ich nicht!“. Ich schon, aber das dürftet Ihr mittlerweile schon verstanden haben. 

 

„Deine Party“, „Sailor Man“, „Die 10 Uhr Show“ und die anderen B-Seiten  

Am Ende bleibt es nochmal, auf die B-Seiten zu verweisen. Auch hier versteckt sich so manches Kleinod. „Deine Party“, die Turbonegro-Cover-Version von „Sailor Man“ und der Huah!-Coversong „Die 10 Uhr Show“ sind immer noch so viel besser als viele Hit-Versuche anderer Independent-„Größen“. Dass „Die 10 Uhr Show“ selbst eine Cover-Version ist, weiß ich erst seit eben gerade. Und dabei sind Huah! wirklich eine Größe der „Hamburger Schule“, in der Tocotronic damals noch neu waren. Eigentlich ist es unüblich, solche Dinge als intellektueller Tocotronic-Freak zuzugeben. Aber eigentlich mag ich ja auch Deutschpunk lieber! Dennoch, frei nach Huah!: „Was sollen wir mit der Welt, wenn wir Tocotronic nicht hätten?“. Ihre B-Seiten haben Tocotronic mittlerweile auf verschiedenen Sammlungen nochmal herausgebracht und ein Best-Of-Album gibt es auch. Für Euch habe ich mal exklusiv meine persönliche Playlist zusammengestellt.  

 

… und ein sozialkritisches Schlagzeugsolo später 

Wenn es keine Plattenbesprechung gibt, kann es auch kein echtes Fazit geben. Daher enden wir heute mit einem Gewinnspiel. In der Verlosung steht die CD-Version des Schrottgrenze-Albums „Chateau Schrottgrenze“, das bei Erscheinen damals schon arg nach Tocotronic (aber mit eigenem Stil) klangen. Vielleicht liegt es daran, dass es von Tobias Levin produziert wurde, einer echten Legende der „Hamburger Schule“ und über die „Die Sache mit der Team Dresch Platte“-Verbindung habe ich ja schon oben geschrieben. In den Chateau-Gesprächen wurde der Produktionsprozess in drei Podcast-Teilen nochmal ausführlich beschrieben. Vielleicht wurde hier aber auch schon die Verbindung gelegt und verstärkt, die dazu führte, dass Schrottgrenze Sänger*In Saskia angefangen hat, bei einer Band zusammen mit Jan Müller, Bassist bei Tocotronic, die Trommeln zu spielen? Und genau den Namen dieser Band suchen wir! Wer bis heute abends (30.01.2022) bis 20 Uhr die richtige Antwort per PM (das bedeutet direkte Nachricht, nicht Kommentar, sonst sieht es ja jeder!) an mich schickt, nimmt an der Verlosung teil. 

DANKE an Timo von Schrottgrenze für die Zurverfügungstellung der Platte!