Wir waren mal Stars! Die neue ARD-Hip-Hop-Doku und der Impact von "Advanced Chemistry"

"Wir waren mal Stars. Die Karriere ist vorbei. Das war´s....", diese Refrain-Zeilen von Torch und Toni L. auf dem 2000er Torch-Album "Blauer Samt" gehen noch etwas weiter. Aber wer den Text kennt, weiß, dass man 2024 den letzten Satz des Refrains vielleicht nicht mehr direkt ausspricht. Zumindest dann nicht, wenn man etwas selbst reflektierter ist und aktuellen deutschen "Gangster"-Rap mit frauenverachtenden Texten selbst verachtet. Ich halte es da wie so oft mit Thees Uhlmann, der gerne der "Fahrer wäre, der die Frauen nach Hip Hop-Videodrehs nach Hause fährt." Wie Torch und Toni L. über jene Worte heute denken, weiß ich nicht, was aber selbst ich als nicht der klassische Hip Hop-Experte weiß, ist die Tatsache, dass ihre damalige Band "Advanced Chemistry" der absolute Goldstandard in Sachen Entwicklung von deutschem Hip Hop ist! Das hat selbst auch die ARD erkannt und widmet dem Kosmos "Heidelberg" die erste von vier Folgen über den deutschen Hip Hop in einer neuen, sehr sehenswerten Doku.

Hier fahren Toni L. und einer von den Stieber Twins mit einem alten Mercedes durch die Wurzeln des deutschen Sprechgesangs. Hier fing alles an! Lange bevor Haftbefehl, Xatar, Bushido und Fler sich Gedanken über Bitches, Diss-Rap und ihre teils kriminellen Verquickungen machen konnten, lieferten Advanced Chemistry mit "Fremd im eigenen Land" 1992 ihre erste Single ab und was soll man sagen: Es gibt wenig, was aktueller sein könnte!

Ein gesellschaftliches Klima entwickelt sich zurzeit, was wahrscheinlich noch tiefer geht als die Stimmung, die sich durch Ereignisse wie in Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda und Solingen in den 90ern ekelhaft festsetzte. Eine Nazi-Partei sitzt nämlich diesmal im Bundestag und darf dort ekelerregende Reden halten. Sie kriegt dafür sogar noch Zustimmung und der Migrations-Diskurs in der Öffentlichkeit wird immer absurder. Nachdem das Recherche-Portal aufgedeckt hat, dass die AfD wirklich auch ihre ewig bekannten Deportations-Fantasien auch in die Tat umsetzen will, erhebt sich die Zivilgesellschaft. Das ist mehr als notwendig. Aber "Advanced Chemistry" haben das mit "Fremd im eigenen Land" schon vor über 30 Jahren erkannt und haben damit ein heute immer noch gültiges Statement gesetzt. Vielleicht ist der Song jetzt wichtiger als jemals zuvor.   

Denn es bedarf nicht nur des politischen Kampfes gegen Rechts, sondern die Rechten versuchen die "Kulturelle Hegemonie" in Deutschland zu erreichen. Sie sind dabei auf einem guten Weg! und daher ist es umso wichtiger, hier auch kulturell gegenzuhalten. Hip Hop erreicht die Jugendkultur immer noch und Advanced Chemsitry haben zu Beginn nach dem Vorbild von amerikanischen Combos wie N.W.A. auch ganz klar politische Statements gesetzt. Zwischen Spaß-Rap und Gangstar-Hip Hop ist das doch die "Origin"-Mitte, auf die man sich wohl jetzt einigen müsste.

Die ARD-Doku zeigt das eindrucksvoll und beim Schauen wird man wehmütig über so viel Reflektiertheit bei deutschsprachigen Rappern wie Toni L. und den Stieber Twins und den weiteren Gästen, die in ihr Auto springen. Advanced Chemistry waren so groß, dass die Beginner ihr Comeback-Album 2016 mit eben jenem Titel benannten. Die zweite Folge der Doku geht daher auch konsequenterweise nach Hamburg. Aber wir wollen hier nicht zu viel verraten. Schaut es Euch einfach an!

Probs gehen an Tobi a.k.a Han Schlomo! Danke für ständigen Support in der Hip Hop-Kultur.

Euer M.C. Ben-At-Arms



PS: In der Doku wird lange darüber diskutiert, was denn neben Breakdance, Rap (MCing), Plattenauflegen (DJing) und Graffiti sei. Seit Holundermann von Blumentopf "Zwischen Hip und Basketball" rappte, wissen wir das doch ganz genau:) 
      
 

Zur Einstimmung habe ich mal ne kleine Playlist gemacht. 
Verbesserungsvorschläge gerne an mich oder direkt an die ARD schicken:)