Kettcar – Die Lieblingsband meiner Lieblingsbands zündet auf „Gute Laune ungerecht verteilt“ Bengalos für die Nacht an und baut Barrikaden gegen gesellschaftliche Polarisierung. 

 

So Kinder, jetzt erzähle ich Euch mal die sehr lange Geschichte, wie der Papa in den 90er Jahren die „Mutter des politisch schlauen Deutschpunks“ kennengelernt hat. Also es war so: Früher, ja wirklich, da gab es kein Internet. Man musste sich Musik in einem echten Plattenladen kaufen oder hat die Bands auf Konzerten kennengelernt. Wirklich! Keine YouTube-Schnipsel vorher, keine Wikipedia-Artikel über die Bandgeschichte, keine Playlist von den bereits gelaufenen Gigs, kein Spotify mit dem kompletten Back-Katalog. Und doch hat man mit sog. Mix-Tapes, das ist eine alte Technologie, die auf Kassetten basiert, gehandelt bzw. sie von Freundinnen und Freunden geschenkt bekommen. Auf einem dieser Mixtapes war auch ein Song einer Band namens …But Alive. Die hatten gerade das dritte Album „Bis jetzt ging alles gut“ rausgebracht und ich hörte auf einmal den Song „Antimanifest“ (vielleicht war es auch „Ausverkauf vs. Ghettoromantik“) und war hin und weg. Selten hat mich eine Stimme kombiniert mit der Musik so abgeholt. Die Stimme war die von Marcus Wiebusch. Und der hat mit dem damaligen …But Alive-Bassisten Torben Meissner sogar noch eine Zweitband gehabt: Die Ska-Punk-Combo Rantanplan. Ich musste daraufhin alles hören, was die je gemacht haben! 

 

Und das war gar nicht so viel zum damaligen Zeitpunkt. Es gab vorher zwei wirklich sehr sehr sehr gute …But Alive-Platten und eine Rantanplan-Scheibe, auf der Torben und Marcus abwechselnd im deutschen Ska-Punk-Stakkato wunderbar wütend die gesellschaftlichen Missstände auseinandernahmen. Ohne Textbuch wäre man bei der Schnelligkeit vollkommen aufgeschmissen gewesen. Wer den Refrain bei „Atheismus“ („Mein Kumpel trägt Chucks gegen Fußfetischisten. Ich organisiere Kirchenbasare gegen Jahresende. Ersetz das zweite Wort im letzten Satz durch onaniere auf und das ist Atheismus, wie er sein muss“) so raushören kann, bekommt auf der Stelle Popcorn von mir! 

 

Nachdem ich mir den Back-Katalog natürlich bei Catholy in der Peiner Innenstadt bestellt hatte, musste man das Ganze natürlich auch live sehen. Nur woher erfährt man die Termine, Ihr jungen Leute, wenn es kein Internet gibt? Mundpropaganda, Flyer, Plakate in Clubs und sowas halt. Irgendwie haben wir dann herausgefunden, dass …But Alive im Drachenflug in Braunschweig und später Rantanplan in Uetze (Ich glaube es jedenfalls und es klingt auch plausibel und auch irgendwie cool, da in der Stadt auch das legendäre Farmer´s lag, aber ganz sicher bin ich mir nicht. Ist ja auch egal.) Es waren jedenfalls zwei der besten Konzerte, die ich je gesehen habe! 

 

…But Alive brachten dann noch mit „Hallo Endorphin“ ein letztes Album heraus, das mit dem Song „Eiin sozialkritisches Schlagzeugsolo später“ und der wunderbaren Zeile „Über Musik schreiben ist wie zu Architektur tanzen“ auch die Grundlage für diese Seite lieferte (mehr dazu weiter unten)! Wiebusch stieg bei Rantanplan aus und diese antworteten darauf mit dem Song „Alles wird Pop“ auf dem Album „Samba“. Das war nämlich möglicherweise schon das Motto auf „Hallo Endorphin“, von dem ich ja seit eh und je behaupte, dass das eigentlich das erste Kettcar-Album ist. Die gründeten sich aber erst später 2001 und wieder einmal erfuhr ich davon über eine Zuspielung einer 4-Song-CD von einer Freundin aus Hamburg. Das erste Kettcar Album „Du und wie viele von deinen Freunden“ folgte und der Rest ist Geschichte. Wiebusch hatte mit Kumpel Thees Uhlmann das Label Grand Hotel van Cleef gegründet und erfreut uns seit nunmehr 23 Jahren mit neuen Kettcar-Alben und auch einem eigenen Solo-Album. 

 

Und jetzt, nach 23 Jahren Kettcar-Geschichte, ist das neue Album „Gute Laune ungerecht verteilt“ das erste Mal auf Platz 1 in die deutschen Album-Charts eingefahren. Und das hat wirklich gute Gründe! 

5 Anspieltipps für den Charts-Stürmer 

 

Das Album ist insgesamt ein Gesamtkunstwerk. Das gilt, wie Ihr auf dem Titelbild ganz oben seht, auch für die Aufmachung und das gesamte Artwork des Werkes. So richtige Füller gibt es eigentlich nicht, aber dennoch kann man fünf absolute Highlights rausfiltern, die man zuerst hören kann, dann das ganze Album, dann wieder die 5 Highlight-Songs, dann die anderen und dann wieder das ganze Album! 

 

München: 

Als ich den Titel des Tracks, der zugleich die erste Single war, das erste Mal hörte, war ich verwundert. Eine Hamburger Band mit einem Songtitel „München“. Ein klassischer Diss-Song gegenüber dem bajuwarischen Stadt-Rivalen? Mitnichten! „München“ ist der Song der Zeit! In dieser, in der die AfD und andere rechtsradikale Spacken über Remigration schwadronieren, haut Kettcar einfach mal einen so dermaßen tiefgehenden Song über Alltagsrassismus raus. Im Mittelpunkt steht die immer wieder gern gezogene Frage an Menschen, die hier aufgewachsen sind, aber einen sichtbaren Migrationshintergrund haben: „Wo bist Du eigentlich hergekommen?“. Und da antwortet Yachi, der Freund des singenden Ichs: „München-Harlaching, München alte Lady!“. Was soll man dazu auch mehr sagen? Eine Band hat selten ein so gutes Timing gehabt! 

 

Kanye in Bayreuth: 

Ein Song über sog. Cancel Culture, der die aktuell diskutierten Fälle von Künstlern, die in der Öffentlichkeit durch persönliches Fehlverhalten in Ungnade gefallen sind, in ein Verhältnis zum Antisemiten Richard Wagner setzt. Der Wagner, der immer noch bei den Festspielen in Bayreuth gefeiert wird! Außer in Israel, da wird er zweifelsohne aus berechtigten Gründen boykottiert. In „Kanye in Bayreuth“ kommt Wiebuschs mächtige Sprechgesang-Stimme durch und die Art des Songs erinnert stark an „Nur Idioten brauchen Führer“ von …But Alive oder an „Der Tag wird kommen“ von Wiebuschs Solo-Platte. Letzterer gehört mittlerweile auch zum festen Set bei Kettcar-Konzerten. Ich habe das Lied jetzt mindestens 10 mal aufmerksam gehört. So richtig klar wird nicht, was die Band jetzt wirklich zur Cancel Culture denkt. Soll man Werk und Autor trennen? Wohl eher nicht, aber diese Zerrissenheit, das ist vielleicht auch die Stärke von Kettcar. Es braucht nicht immer sofort moralisch feste Antworten auf alles, vielleicht reicht es erstmal, die richtigen Fragen zu stellen! 

 

Wir betraten die Enterprise mit falschen Erwartungen: 

Der Titel allein reicht schon für den Aufstieg in den Olymp des Rock! Kettcar sind mittlerweile in der gleichen Feuilleton-Liga wie Tocotronic. Es gilt der T-Shirt-Test: Hat ein Text, ein Refrain oder ein Songtitel das Potential, um auf ein T-Shirt gedruckt zu werden und allein als Statement zu stehen? Das gilt ganz klar für diesen. Hier scheint es um eine Beziehung zu gehen: „Zwei halbe lost Souls kämpfen bis zum Schluss“. Und das sind auch immer die zwei Seiten von Kettcar gewesen. Auf der einen Seite die politischen Songs, auf der anderen Seite die Liebeslieder. Aber wie es Wiebusch auf der großartigen Kettcar-Live-Platte „…und das geht so“ sagt: Es ist immer das gleiche Herz, das diese Texte schreibt. 

 

Einkaufen in Zeiten des Krieges: 

Den T-Shirt-Test besteht auch dieser Song. Der Refrain „Nicht alle in Hamburg wollen zu König der Löwen“ sagt alles aus. Hier steckt die ganze Kapitalismuskritik der Band in einem Satz, die sich immer schon mit Mietenwucher, Ausverkauf der Stadt und der gesellschaftlichen Polarisierung auseinandergesetzt hat. Das gilt natürlich und vielleicht auch etwas mehr für die Vorgänger-Bands …But Alive und Rantanplan. „Ghettoarchitekt“ von Rantanplan und „Ausverkauf vs. Ghettoromantik“ von …But Alive schlugen bereits in den 90ern in die gleiche Kerbe. Ich frage mich, seitdem ich den Song gehört habe, was man wohl über Berlin entsprechend singen würde. Hier gab es zwar Musicals, aber Gott sei Dank sind die alle gefloppt bzw. ist keins langfristig geblieben. Und das ist auch gut so! 

 

Bringt mich zu Eurem Anführer: 

Kettcar haben auch auf „Gute Laune ungerecht verteilt“ ein Herz für die vermeintlichen Looser des Systems. Wie schon bei „Palo Alto“ auf der vor diesem Album veröffentlichten EP „Der süße Duft der Widersprüchlichkeit (Wir vs. Ich)“ dreht jemand durch: „Wir würden sie heute Nacht gern hierbehalten. Nur wegen dem bisschen Heulen oder warum jetzt?“ Kaum ein anderer Band gelingt es, das Ganze ohne überzogene Weinerlichkeit auf den Punkt zu bringen. „Bringt mich zu Eurem Anführer“ ist die klare Ansage des Betroffenen und somit geben Kettcar den verlorenen Seelen auch in diesen Notsituationen ihre Würde zurück. „Wir sind von der Sache alle ziemlich angenervt oder? Also schlage ich vor, wir sollten versuchen, wenigstens ein bisschen Würde zu bewahren!“, heißt es im Intro zu „Pete“ auf der …But Alive-Scheibe „Bis jetzt ging alles gut“. Und das gelingt Kettcar auf dem jetzigen Nr.1-Album so dermaßen gut, dass man eigentlich nur noch Heavy Rotation empfehlen kann! 

…und ein sozialkritisches Schlagzeugsolo später 

Und so schließt sich dann auch der Kreis, wie Wiebusch in „Auch für mich 6. Stunde…“ singt: „Unser politischstes Album seit…oh bitte, ich bin kurz eingeschlafen!“. Aber wenn man tatsächlich das letzte …But Alive-Album eigentlich für das erste Kettcar-Album hält, dann stimmt es wohl. „Gute Laune ungerecht verteilt“ ist wahrlich das durchgehend politischste echte Kettcar-Album und Wiebusch zieht damit den Kreis ganz klar zurück zu …But Alive. Verwunderlich ist das nicht, so brannten Anfang der 90er Flüchtlingsheime – 1993 kam der …But Alive-Erstling „Für uns nicht“ raus – und jetzt fabulieren Rechtsextreme öffentlich und ungeniert über ihre Remigrationspläne, nachdem wir Corona und wieder Krieg in Europa auf den Tisch bekommen haben. In dem Opener „Auch für mich 6. Stunde“ wird klar, um was es Kettcar geht. Sie sind das „Bengalo in der Nacht“! Mit ihnen kann man zum „Champagnerstand auf den brennenden Barrikaden“ (Doug & Florence) gegen jeden Feind bestehen. 

 

Hilft das wirklich, um etwas gegen die Polarisierung in unserem Land zu tun? Wählt ein AfD-Wähler nach dem Hören von „München“ plötzlich demokratisch? Organisieren sich Paketboten und Pflegekräfte mehr bei Gewerkschaften, wenn sie „Doug &Florence gehört haben? Wird der Kapitalismus nach „Einkaufen in Zeiten des Krieges“ endgültig abgeschafft? Wahrscheinlich alles nicht! Aber die auf der guten Seite der Barrikade, die fühlen sich gestärkt und vorbereitet für die Schlachten, die kommen. Und damit ist schon viel erreicht. Der Name dieser Band ist Kettcar…und so geht das! 

 

 

 

PS: Es gibt nur einen Grund für mich, heute wieder 16 sein zu wollen, wie im Song „Für immer 16“ von der „Nicht zynisch werden“, dem zweiten …But Alive-Album, beschrieben: Jetzt als 16-Jähriger das neue Kettcar-Album zu hören und dann den ganzen Back-Katalog mit allen anderen Kettcar-Alben, den vier …But Alive-Scheiben, den zwei Rantanplan-Platten mit Marcus Wiebusch und seinem Solo-Album neu zu entdecken. Diese Wucht, diese politische Durchdringung, diese textliche Versiertheit und das alles mit Deutschpunk-Gitarren in Hymnen-Format – wo gibt es das sonst noch? Ich höre jetzt erstmal wieder „Für uns nicht“ und dann „Gute Laune ungerecht verteilt“. Dann schauen wir doch mal, ob die Welt eine bessere geworden ist😊. 

Zu Architektur tanzen!

In einem alten Song auf der letzten Platte der Deutschpunk-Helden von "...but Alive" singt Marcus Wiebusch "Über Musik schreiben ist wie zu Architektur tanzen!"  Auch dieses Zitat ist am Ende geklaut. Man weiß nicht genau, ob es von Frank Zappa oder Steve Martin stammt. Aber auch egal. So kann ich es auch einfach klauen und als Titel dieses neuen Forums nehmen.

Das oben aufgeführte und eingerahmte Zitat von Good Old Goethe hat mir ein sehr guter Freund vor langer Zeit zum Geburtstag geschenkt. Da hatte ich schon erste Plattenkritiken auf einem befreundeten Blog geschrieben. Natürlich gibt es immer mehrere Hauptziele des eingefleischten Kritikers (hier verzichte ich auf das Gendern, weil es den meisten Frauen, die das machen, meistens nur um die Sache geht):  1. Ruhm und Ehre 2. Die selbst nie so erfolgreiche Musiker-Karriere in einem besseren Licht dastehen lassen, indem man andere nieder schreibt. 3. Platten abgreifen 4. Den inneren Besserwisser-Trieb kanalisieren. 5. Umsonst auf Konzerte kommen. Wichtig ist dabei auch, immer alles in Top 5 zu denken und aufzuschreiben. Auch in diesem Forum werde ich mich daran halten!

Neben diesen Hauptzielen hat das alles hier noch 5 relativ unwichtige Unterziele, die ich dennoch erwähnen möchte:

1. Es wird so viel Mist produziert, der warum auch immer, erfolgreich ist. Meine These ist: Das liegt auch an der fehlenden Kritik. Hätten beispielsweise die richtigen Leute rechtzeitig  die richtigen Dinge über Xavier Naidoo geschrieben, wäre uns vieles erspart geblieben.

2. Es wird viel Gutes produziert, über das nur Mist geschrieben wird. So hat der Stern in einer Kritik zum neuen Album der Liga der Gewöhnlichen Gentleman geschrieben, dass sie eine Deutschpop-Band seien. Meine Frage: Ist das justiziabel?

3. Der Vierten Corona-Welle prophylaktisch etwas entgegen setzen. Klar, Ihr denkt, dass ist doch die Aufgabe der Bundes- und Landesregierungen. Nunja... Aber in den letzten 3 Wellen habe ich gemerkt: Kultur, Musik, Filme und vieles mehr helfen. Es ist wie Schnaps. Ein Schmierstoff, der zusammen hält. Und wenn man halt keinen Schnaps zusammen trinken kann, kann man sich zumindest online auslassen und austauschen.

4. Das Internet und insbesondere die sog. sozialen Medien sind ein Moloch. Dass tatsächlich so viel Mist in Kübeln in den Hirnen einiger dort vorhanden ist, ist erschreckend. Mein Ziel ist es, die sozialen Medien in ihrer eigenen Kampfzone zu schlagen und diese einfach mit positiven Inhalten zu fluten.

5. Ihr seid das Wichtigste bei der ganzen Geschichte. In meiner Vision wird das Ding hier eine Plattform, bei der sich Menschen mit gutem Geschmack (den definieren natürlich wir!) austauschen können. Ich habe in meinen 40 Jahren so viele tolle Menschen mit zahlreichen Geschmäckern und Leidenschaften kennengelernt. Und natürlich habe ich auch selbst dadurch meine weiter entwickeln können. Und, ja! In den letzten 1,5 Jahren Corona-Mist hat mir dieser Austausch am meisten gefehlt! Und wenn es Euch auch so geht:

Lasst uns gemeinsam zu Architektur tanzen und macht hier mit!


Mit Hochachtung an Euch

Anis